Ganz beim Alten ist es nicht, als Anna Netrebko in Paris singt. Als ob es keinen Krieg gäbe und sie sich nicht wochenlang in Schweigen gehüllt hätte. Netrebko, die ihren 50. Geburtstag mit 6000 Gästen im Kreml gefeiert hatte. Damals im Herbst 2021 schien es noch opportun, sich mit Wladimir Putin zu zeigen.
Proteste und Standing Ovations
Das Konzert in Paris von letzter Woche war von Protesten begleitet. Sie sei eine «Kollaborateurin» war auf Schildern von Protestierenden vor der Philharmonie de Paris zu lesen. Im Saal beschwerte sich ein Mann lautstark – vermutlich auf Ukrainisch.
Die Proteste waren allerdings wirkungslos gegen die Sucht nach der schönen Stimme Netrebkos. Das Konzert ging mit Standing Ovations über die Bühne.
Posts mit Putin
Anna Netrebkos Nähe zu Putin ist verschiedentlich dokumentiert: auf Fotos und in Posts, die sie selbst in sozialen Medien abgesetzt hat. Netrebko taucht aber auch auf Listen von Künstlern auf, die Wladimir Putin in einem Wahlverfahren ihre Unterstützung zusicherten.
Das verdaut man im Westen nur schwer. Wann endlich würde sich die Diva von Putin distanzieren? Wann den Krieg in der Ukraine verurteilen?
Lange tat sie nichts – mit Folgen. Die Metropolitan Opera in New York strich sie im März aus Produktionen für dieses und nächstes Jahr. Auch München und Zürich und weitere Opernhäuser und Veranstalter distanzierten sich von Netrebko.
«Zwischen zwei Stühlen»
Am 30. März kommt die Wende: «Ich verurteile den Krieg gegen die Ukraine ausdrücklich», schreibt sie in einem Statement. Worauf auch Russland sich von seiner berühmtesten Sängerin trennt: keine Konzerte bis auf Weiteres.
Netrebko sitze «zwischen zwei Stühlen», schreibt diese Woche die «Zeit». Für den Westen sei sie nicht kritisch genug, für Russland zu kritisch. Das trifft es auf den Punkt. Denn von Wladimir Putin direkt hat sich Netrebko nicht distanziert. Damit ist sie nicht alleine.
Zeichen der Angst
Sich vom Kremlchef zu distanzieren, sei gefährlich, meint sie. Der Zeitung «Le Monde» sagte sie, warum. Auf Forderungen, sich von Putin zu distanzieren, entgegnet sie: «Ich habe einen russischen Pass, er ist immer noch der Präsident. Ich kann diese Worte nicht öffentlich äussern.»
Netrebko wohnt mit ihrer Familie in Wien. Doch kann man solche Äusserungen durchaus als Zeichen der Angst interpretieren.
Der Krieg verändert alle. Nicht nur eine Künstlerin, die sich zuvor sorglos in Kremlnähe aufhielt und davon profitierte, dass in den letzten 20 Jahren – seit Putins Amtsantritt – «viel für die Kultur in Russland getan worden» sei.
Der Krieg verändert auch die Veranstalter. Sie müssen Farbe bekennen, wenn sie russische Künstlerinnen wie Netrebko auf dem Spielplan behalten.
Die Philharmonie verteidigt sich
Die Philharmonie de Paris sah sich vor Netrebkos Rezital deshalb zu einer Pressemeldung gezwungen. Man sei gegen den Krieg in der Ukraine. Man habe Konzerte mit Künstlern gestrichen, «die mit der Macht verbunden sind: Valery Gergiev, Denis Matsuev, die Orchester des Bolschoi-Theaters, des Mariinsky-Theaters, des Russian National Orchestra und MusicAeterna.»
Bei Netrebko macht das Haus nun eine Ausnahme. Weil Netrebko gegen den Krieg ist. Weil sie in Russland in Ungnade gefallen ist und dort bis auf Weiteres keine Konzerte singt.
Eine Distanzierung von Putin taucht in dieser Argumentation nicht auf. Genau darauf aber käme es an, finden wir im Westen. Zumindest diejenigen unter uns, die nicht süchtig sind nach Netrebkos schöner Stimme.