Obwohl Jewgenij Kissin als Pianist umjubelt ist, würde er lieber auf Seiten der Ukraine den bewaffneten Kampf ergreifen. Der gebürtige Russe kritisiert nicht nur die russische Führung harsch, er zeigt sich auch konsterniert über das Verhalten der westlichen Regierungen. Zum Zeichen seiner Solidarität mit der Ukraine gibt er im Luzerner KKL ein Solokonzert.
SRF: Sie geben nicht gerne Interviews. Warum sprechen Sie trotzdem mit uns?
Jewgenij Kissin: Mein ganzes Leben lang habe ich Interviews gehasst. Doch seit Kriegsbeginn habe ich das Gefühl, dass ich es tun muss. Ich will alles machen, was in meiner Macht steht, um der Ukraine zu helfen.
Was können Sie tun?
Leider bin ich zu alt und ungeeignet, um an der Seite der Ukrainer zu kämpfen. Also gebe ich Konzerte und Interviews. Ich will den europäischen Politikerinnen und Bürgern erklären, dass die Ukraine zu einem Verteidigungs-Wall der westlichen Zivilisation geworden ist.
Es ist eine unglaubliche Schande, dass dieser Krieg nach fast zweieinhalb Jahren noch nicht beendet ist. Ich erinnere daran, dass es nur einige Monate dauerte, bis der Westen Soldaten schickte, als Saddam Hussein Kuwait überfiel. So hätte es auch in der Ukraine geschehen sollen.
Wie sehen sie die Schweiz im Ukraine-Konflikt?
Putin sieht die Schweiz schon lange nicht mehr als neutrales Land. Denn die Schweiz hat die Sanktionen gegen Russland übernommen. Die Schweiz ist eine der grossartigsten Demokratien der Welt. Die Ukraine ist noch keine perfekte Demokratie, aber sie bemüht sich. Es ist Zeit, das zu verteidigen.
Heute ist es sehr gefährlich, den Krieg zu kritisieren.
Wenn die Schweiz keine militärische Hilfe leisten will, sollte es wenigstens möglichst viel humanitäre Hilfe sein. Die Schweiz hat über 80'000 Menschen aus der Ukraine aufgenommen hat. Das ist toll. Aber ich denke, ihr könntet es euch leisten, noch mehr zu tun.
Wie stehen sie zur Sanktionierung russischer Musiker?
Ich finde diese Sanktionen gerechtfertigt, wenn Musikerinnen und Musiker Putin unterstützen und sich nicht vom Krieg distanzieren. Heute ist es sehr gefährlich, den Krieg zu kritisieren. Aber einige Tage nach der russischen Invasion war dies noch möglich. Viele russische Kulturschaffende haben öffentlich ihr Entsetzten bekundet. Diese sollten auch weiterhin im Westen auftreten können.
Sie haben Moskau mit zwanzig verlassen. Warum?
Ich bin Jude. Russland war schon immer ein Land voller Antisemitismus. Sobald wir konnten, verliessen wir Moskau. So wie viele Millionen andere jüdische Menschen auch. Darum spüre ich auch so viel Solidarität mit der Ukraine. Mein Volk war lange das grösste Opfer russischer Xenophobie. Nun sind die Ukrainerinnen und Ukrainer zum grössten Opfer geworden.
Verarbeiten sie ihre Gedanken und Gefühle auch in ihrer Musik?
Ich habe zu Kriegsbeginn ein Trio komponiert, in dem ich den Schmerz des ukrainischen Volkes aufnehme. Zum Schluss des Werkes feiert die Ukraine den Sieg. Sie muss. Denn alles andere wäre das Ende der westlichen Weltordnung. Das Ende aller Menschen, die Frieden lieben.
Kann Musik nicht einfach Musik sein und die Politik beiseitelassen?
Es mag nicht allen gefallen, aber Musik existiert nicht in einem Vakuum. Sie ist Teil des Lebens. Viele Komponisten haben Werke geschrieben unter dem Eindruck der Geschehnisse ihrer Zeit.
Chopin war Pole. Das Scherzo Nr. 1 schrieb er in einer Zeit der Verzweiflung. In Warschau waren die Aufstände gegen die russische Herrschaft niedergeschlagen worden. Chopins Gefühle habe ich in dieser Musik immer gespürt.
Das Gespräch führte Sara Leuthold.