In den 1970ern wurde Natan Scharanski weltweit ein Symbol für den Kampf gegen den Antisemitismus in der Sowjetunion. Neun Jahre insgesamt verbrachte der Dissident im Straflager in Sibirien, weil er sich für Menschenrechte einsetzte und für das Recht sowjetischer Jüdinnen und Juden, nach Israel auszureisen.
«Nachdem wir die Sowjetunion besiegt hatten, glaubten wir, die dunkle Vergangenheit könne nie zurückkehren», sagt Scharanski heute. «Doch Wladimir Putin hat das repressive System von damals weitgehend wiedererrichtet. Die Einschränkung der Rede- und Versammlungsfreiheit, der Unabhängigkeit der Justiz – all das ist wieder wie unter Breschnew oder sogar wie unter Stalin.»
Häufige antisemitische Äusserungen
An die Sowjetzeit erinnert nicht nur die verschärfte Repression. In der UdSSR wurden Jüdinnen und Juden systematisch diskriminiert. Im heutigen Russland hat sich in den Staatsmedien antisemitische Rhetorik jüngst gehäuft.
Im heutigen Russland gibt es bis jetzt keine staatliche Diskriminierungspolitik.
Der Oberrabbiner von Moskau sah sich gezwungen auszureisen, nachdem er sich geweigert hatte, den Krieg öffentlich zu unterstützen. In Interviews warnt er nun vor dem wachsenden Antisemitismus und ruft Russlands Jüdinnen und Juden dazu auf, das Land zu verlassen.
Gefährliche Zeiten für Juden
Auch Scharanski beobachtet die Lage mit Besorgnis. Doch sie sei noch nicht mit der strukturellen und staatlichen Judenfeindlichkeit in der Sowjetzeit vergleichbar, sagt er.
«Als ich in der Sowjetunion Dissident war, wurden Juden etwa im Beruf diskriminiert», so Scharanski. «Ein Jude konnte zwar Arzt werden, aber nicht Direktor eines Spitals. Das war von der Politik so gewollt. Aber im heutigen Russland gibt es bis jetzt keine staatliche Diskriminierungspolitik.»
Dem Volk geht es immer schlechter. Also müssen Schuldige gefunden werden.
Dies könnte sich jedoch ändern, befürchtet Scharanski. Kriegszeiten, sagt er, seien gefährlich für Jüdinnen und Juden. «Putin hat Russland in eine ganz schwierige Lage gebracht, er muss erklären, warum er Krieg führt. Dem Volk geht es immer schlechter, und es ist seine Schuld. Also müssen andere Schuldige gefunden werden, und da sind die Juden historisch meist oben auf der Liste.»
«Putin ist kein Antisemit»
In Putins Umfeld – unter den nationalistisch geprägten Geheimdienstlern, die Russlands Machtelite stellen – gebe es viele überzeugte Antisemiten, glaubt Scharanski. Putin selbst sei jedoch eine Ausnahme. Scharanski kennt ihn persönlich, er hat Putin in seiner Rolle als israelischer Vizepremier getroffen. «Über Putin kann man viel Schlechtes sagen, er ist ein blutrünstiger Diktator. Aber er ist kein Antisemit.»
Der Antisemitismus wird in Russland wohl eine immer grössere Rolle spielen.
Doch Putin sei eben auch ein skrupelloser Machtmensch. Komme er in Bedrängnis, werde er nicht davor zurückschrecken, den Antisemitismus als Instrument einzusetzen. «Es werden wieder alte Vorurteile geweckt», sagt Scharanski über die jüngst judenfeindliche Rhetorik in der Propaganda. «Der Antisemitismus wird in Russland wohl eine immer grössere Rolle spielen.»
Unvorstellbares Szenario
Der Krieg ist für Scharanski auch eine persönliche Sache. Während seiner Jugend im Donbass hätte er sich ein Kriegsszenario nie vorstellen können: «Hätte man mich damals gefragt, zwischen wem hier der nächste Krieg ausgetragen würde – Russen und Ukrainern oder Menschen und Marsbewohnern – dann hätte ich gesagt, ja, natürlich zwischen Menschen und Marsbewohnern.»
Russlands Angriff auf die Ukraine droht für ihn, die dunkle Vergangenheit zurückzubringen. In der Vergangenheit Undenkbares hat der Krieg jedoch schon jetzt ausgelöst.