«Those that write history stand with me» – so beginnt das Lied «October Rain», das die israelische Nachwuchssängerin Eden Golan am ESC im Mai performen wird. Zu hören ist es offiziell noch nicht, aber schon im Titel hallt der Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober nach.
Der englische Songtext, der seit einigen Tagen im Netz zirkuliert, lässt verschiedene Deutungen zu: Plädiert das lyrische Ich dafür, dass die zukünftigen Geschichtsbücher Israel Recht geben werden? Oder ist es ein Klagelied, das authentisch den Gemütszustand eines aufgewühlten Landes beschreibt?
Das prüft aktuell die European Broadcasting Union (EBU). Sie wird entscheiden, ob der Song disqualifiziert werden muss – gemäss ihrem Reglement, das am ESC keine «Ansprachen und Gesten politischer Natur» erlaubt. In diesem Fall würde die israelische Rundfunkstation Kan die diesjährige Teilnahme am ESC zurückziehen, Änderungen am Liedtext oder ein anderer Song kommen für den Sender nicht in Frage.
Disqualifikation als Exit-Strategie
Dass der Sender Kan so am Wortlaut des Songs festhält, erklärt sich SRF-Musikredaktor Schimun Krausz mit einer Art Exit-Strategie: Falls es zur Disqualifikation des Songs komme, könne Israel auf diese Weise dem ESC fernbleiben, ohne selbst die Teilnahme zurückziehen zu müssen. «Es wäre eine Möglichkeit, in diesem politisch schwierigen Umfeld das Gesicht wahren zu können», sagt Krausz, der im Mai für SRF nach Malmö fährt.
Auch in Israel selbst gibt es Stimmen, die auf den Auftritt in Malmö lieber verzichten würden, sagt die in Tel Aviv lebende Sozialwissenschaftlerin und Journalistin Gisela Dachs: «Die Leute fragen sich, ob man der 20-jährigen Sängerin Eden Golan den Auftritt überhaupt zumuten könne.» In den letzten Wochen gab es zahlreiche Boykottaufrufe gegen Israels Teilnahme am ESC, vor allem aus skandinavischen Ländern.
Vielen Israelis wiederum gibt der ESC ein Gefühl der Zugehörigkeit, sagt Gisela Dachs: «Gerade für Länder am Rande Europas wie Israel ist der ESC eine wichtige Bühne der Selbstdarstellung.» Die Einschaltquoten sind jährlich hoch, die Israeli wollen verfolgen, wer für ihr Land stimmt und wer nicht. Die Punktevergabe ist also immer auch ein Sympathien-Barometer.
Politische ESC-Songs werden vom Publikum eher mit Punkten belohnt. Anders entscheidet jeweils die Jury: Sie punktet politische Songs tendenziell nach unten. Das hat der Historiker Dean Vuletic untersucht und kommt zum Schluss: «Das Publikum will am ESC Songs mit politischer oder sozialer Botschaft hören.»
Musikredaktor Schimun Krausz stimmt zu: «Die politischen Inhalte machen die Songs interessant und lassen die Lebenswelt des jeweiligen Landes ausdrücken. Sonst wäre am ESC nur substanzlose Popmusik zu hören.» Gut möglich also, dass die EBU bei ihrer Entscheidung bezüglich «October Rain» die Lebenswelt und die besonderen Umstände berücksichtigt – von Israel kann man in diesen Zeiten schliesslich kaum einen happy Partysong erwarten.