«Ich bin Muslima, okay. Aber ich bin auch Sängerin!» Sadiqa Madadgar schaut selbstbewusst in die Kamera. Ihre Familie entkommt dem Krieg im pakistanischen Exil. Sadiqa will ihrer Leidenschaft, der Musik, weiter folgen. Sie verlässt ihre konservativen Eltern und geht allein nach Kabul. Dort wird sie mit poppiger Volksmusik zum Star.
Als die Taliban wieder die Macht übernehmen, ist Sadiqa in akuter Lebensgefahr. Ende September gelingt ihr die Flucht aus ihrem geliebten Land.
Acht weiteren Sängerinnen ereilte ein ähnliches Schicksal. Ihre Geschichten sind seit diesem Freitag auf dem virtuellen Streaming-Festival «Female Voice of Afghanistan» auf YouTube zu sehen – mit vor Ort gefilmten Konzerten und virtuellen Auftritten zusammen mit europäischen Musikerinnen und Musikern.
Zwischen Neugier und Risiko
Die iranische Musikethnologin und Festivalkuratorin Yalda Yazdani, der Leiter der Zeitgenössischen Oper Berlin und Festivalleiter Andreas Rochholl haben das Streaming-Event initiiert und die mutigen Frauen in sehr persönlichen Porträts eingefangen.
Fünf Jahre lang hatte Yazdani bereits zu Frauenstimmen im Iran recherchiert und zusammen mit Rochholl einen Dokumentarfilm und zwei Bühnenfestivals in Berlin organisiert.
«Dann kam der Punkt, wo ich den Blick über meine Heimat hinaus richtete», erzählt Yazdani. «Afghanistan ist das Nachbarland, aber ich war nie dort. Ich wurde neugierig auf die Frauen dort: Wer sind sie? Wie klingt ihre Musik? Alles, was uns seit der Kindheit im Iran eingebläut wurde, war: Das ist kein sicheres Land, geht da nicht hin.»
Ähnlich die Vorgabe des deutschen Auswärtigen Amtes: Recherchen vor Ort und Reisen von afghanischen Künstlerinnen nach Europa waren vom Förderetat ausgeschlossen.
«Von Anfang an hatten wir also starke Limitierungen», sagt Rochholl. «Wir mussten auf eigenes Risiko nach Afghanistan reisen.» In den Regionen, die sie erkunden konnten – Kabul, die Provinzen Bamyan und Herat – trafen sie vor allem auf junge Sängerinnen.
«In ihren Stimmen liegt eine tiefe Leidenschaft», sagt Yazdani. «Sie wurden während der letzten 25 Jahre geboren, haben Afghanistan im Umbruch erlebt. Diese Generation interessierte mich vor allem.»
Zwischen Verlust und Neustart
Da ist etwa Freshta Farokhi aus der Provinz Bamyan: Mit ihren 20 Jahren ist sie eine herausragende Sängerin der traditionellen Musik der Hazara. Früh haben die Taliban Bamyan zurückerobert. Seitdem muss sich Freshta an wechselnden Orten verstecken.
Oder die fussballbegeisterte Sumaia Karimi: Musik ist für sie Bewältigungsstrategie in einem von Verlust geprägten Alltag. Kürzlich gelang ihr die Ausreise nach Italien, wo sie ihr Leben von Null aufbauen muss.
Und da ist auch Popstar Rouya Doost, die ihre Karriere zwischen Hamburg und Kabul aufteilte. Im Juli wurde sie einer Lebenshälfte beraubt.
Zwischen Politik und Lebensrealität
Die Welt diskutiert über das Desaster, das der Westen in Afghanistan hinterlassen hat. Rochholls Ansatz ist ein anderer: «Wir können und wollen mit unserem Festival keine politisch-historische Analyse von aussen betreiben, das wäre überheblich. Aber wenn wir die persönlichen Geschichten dieser Frauen erzählen, sie über ihre Angst und ihre Freude sprechen, dann hat das eine Wahrheit.»