Vom berühmten Telldenkmal sind es nur ein paar Fussminuten zum Lehnplatz. Ich gehe als Erstes zu diesem zentralen Begegnungsplatz des Festivals Alpentöne. Dort steht während des verlängerten Wochenendes ein grosses Festzelt mit Bühne, Biertischen, Bierbänken und Imbissstand.
Musik strömt vom Lehnplatz aus durch die Gassen der Altstadt von Altdorf, von morgens früh bis spät in die Nacht. Ganz unterschiedliche Musik, das überrascht mich immer wieder. Und keineswegs ausschliesslich Volksmusik, wie der Name des Festivals vermuten lässt.
Pommes frites, Elektro und Schwyzerörgeli
In die Beine und in den Bauch fahren am Abend zum Beispiel die elektronischen Beats einer Gruppe rund um den Alphornisten Balthasar Streiff und DJ Flink. Einige Besucher tanzen dazu im Zelt bei der Bühne, andere draussen im Regen. Viele sitzen zu dieser Musik auch einfach gemütlich beisammen, trinken Bier oder essen Pommes frites.
Tagsüber bietet das Festivalzelt jeweils unbekannteren experimentierfreudigen Ensembles und Bands die Möglichkeit, ihre Musik zu präsentieren: Blues-Rock kombiniert mit Rap oder Volksmusik-Gassenhauer, bearbeitet für Trompete, Saxofon, Tuba und Schwyzerörgeli.
Gegensätzliche Stimmungen
Nach der ausgelassenen Volksfeststimmung am Lehnplatz habe ich Lust auf etwas Besinnlicheres. Es ist Samstagabend, kurz vor Mitternacht. Die Tanzbeats werden leiser, ich gehe im Regen wieder vorbei am Telldenkmal Richtung Kirche St. Martin.
Dort hat das Konzert der Wiener Choralschola schon begonnen. Oder besser gesagt: deren Performance. Die sechs Sänger stehen erst in der Apsis der klassizistischen Kirche, gregorianischer Gesang erfüllt den Raum, dazu mischen sich Drehleierklänge von Matthias Loibner – originale und elektronisch bearbeitete.
Die meditative Musik lullt mich ein und lässt meine Gedanken schweifen. Allmählich beginnen sich die Sänger im Kirchenraum zu verteilen, die Stimmen klingen nun bald von vorne, bald von der Seite, bald von hinten. Plötzlich bringt das Geräusch eines zerspringenden Porzellantellers die Musik abrupt zum Stillstand. Das Publikum scheint den Atem anzuhalten, die Spannung ist auf dem Höhepunkt. Bis schliesslich eine sanfte Frauenstimme den Weg zurück in den Gesang weist.
Klangspaziergang in der Auenlandschaft
Am Sonntag steht ein Klangspaziergang auf dem Programm. In der Auenlandschaft des Reussdeltas haben sich entlang der Wege ein gutes Dutzend kleinere Ensembles mit Instrumenten aufgestellt.
Ich lasse mich von meinen Ohren leiten: Schon von Weitem höre ich durch das Schilf- und Blätterrauschen der Natur Örgeli-Musik und geniesse dazu die Aussicht auf die steilen Urner Bergflanken links und rechts des Sees. Viele Leute sind unterwegs; zu Fuss oder mit dem Velo, Ältere, Junge, Familien, asiatische Touristen, ein gemischtes Publikum.
Nach dem fröhlichen Schweizer Schottisch mache ich auf diesem Spaziergang Halt bei den Wiener Ziehharmonikern. Sie improvisieren im Tangorhythmus und lassen eine ganz andere Atmosphäre entstehen. Irgendwie wirkt damit auch die Landschaft anders. Das zeigt sich auch bei der kleinen Band Al-Berto & the Fried Bikinis. Sie verbreitet mit Gitarrenmusik und spanischen Folklore-Hüten vor wolkenverhangener Kulisse eine fast mediterrane Stimmung.
Ungezwungene Atmosphäre im Konzertsaal
Ein paar Stunden später spielt der Tessiner Marco Santilli ( mehr dazu ) im Tellspielhaus mit seinem Jazzquartett und einem Bläserquintett. Die Stimmung ist hier im Konzertsaal genauso ungezwungen wie an allen anderen Veranstaltungen: keine Kleiderordnung, es darf gelacht oder mitgesungen werden, und die Leute verlassen oder betreten ungeniert während der Konzerte die Spielorte. Das Thema von Santillis Programm, natürlich passend zu Alpentöne: eine Reise von der Alpennord- auf die Alpensüdseite.
Am Abend zuvor war die Stimmkünstlerin Erika Stucky zu hören mit einem «alpinen Musiktheater», einem Konzertprogramm mit Musik von Led Zeppelin bis zu experimenteller Stimmgeräuschkunst inklusive Schattentheater über den Geierwally-Stoff. Stucky dressierte darin als Dompteurin im fedrigen Kleid die Musiker der Blaskappelle Da Blechhauf’n.
Dass Alpentöne weit in die Welt hinaus strahlt, erzählt mir die Peruanerin Liana Cisneros: Sie war vor vier Jahren als Besucherin am Festival in Altdorf und war so begeistert, dass sie danach in ihrer Heimat auch ein Festival der Bergtöne initiierte: das «Festival Internacional de Música de Alturas» in der Millionenmetropole Lima.
Nächstes Jahr werden in Lima nun schon zum zweiten Mal Ensembles aus den Anden, den Alpen und dem Himalya zusammenfinden, ihre Töne zelebrieren und Genregrenzen vergessen machen. Ähnlich wie in Altdorf.