«Die Wurst ist vom Bauern da vorn im Dorf. So authentisch», ruft die deutsche Mutter quer durch den Einkaufsladen in Ardez ihrem Mann zu. Neben mir an der Kasse flüstert ein Basler Familienvater: «Es hat zu viele Touristen.»
Den Dialog gibt’s in jeder überrannten Destination, wenn sich Touristen über nichts so sehr aufregen wie über Touristen und die Region am liebsten exklusiv für sich alleine hätten, denke ich mir und nicke, selbst ein Tourist.
«Es gibt Tagestouristen und Einheimische, die werden aber immer weniger», erklärt mir einen Tag später eine Wirtin in Ftan: «Das liegt auch an den Zweitwohnungsbesitzern, den Unterländern». Das Zweitwohnungsgesetz habe für den Ausverkauf der Region gesorgt. «Man kann kaufen, muss aber nicht das ganze Jahr hier leben.»
Schliesslich gebe es die, die ins Unterengadin kommen, um hier zu leben. Ich mache mich auf die Suche nach denen, die kamen, um zu bleiben – nach den Geschichten von Einheimischen und Engadin-Neuanfängern.
Verliebt in Lavin
Einer der «Dienstältesten» derer, die kamen, um zu bleiben, ist Hans Schmid. In Lavin betreibt er das Hotel «Piz Linard». Er kam aus St. Gallen in die Ferien nach Guarda, fuhr mit dem Mountain-Bike durch Lavin und verliebte sich ins Dorf.
Zuhause in St. Gallen war er Leiter des kantonalen Kulturamts. Er förderte Kultur, konnte zahlen, aber nichts gestalten. In Lavin gab es viel zu gestalten. Allein, es fehlte das Geld. Eine Totalsanierung war angezeigt.
Seine Altersvorsorge hat er aufgelöst, Gelder aufgetrieben. Mittendrin verliess ihn sein Architekt. «In der grössten Not hatte ich den besten Einfall», sagt er. Statt Geld zu sparen, gab er es richtig aus und liess die Eckzimmer seines Hotels von Künstlern gestalten, was ihm überregionale Presse einbrachte, «unbezahlte PR zuhauf», und zum Durchbruch verhalf. Unter anderem brachte es ihm die Auszeichnung «Historisches Hotel des Jahres 2018».
Probleme machen erfinderisch
Dann kam die nächste Herausforderung: fehlendes Personal. Und mit ihr die nächste Idee: Er engagierte Talente ohne Diplom. Junge Menschen, die sich mit seinem Projekt identifizieren. Vom Mittelmeer und aus dem Balkan. Geflüchtete aus Tibet und Afghanistan. Sie machen die Seele seines Hauses aus. Ausbildung «on the job», zum vollen Lohn.
Sie sind Teil des Dorfes, arbeiten und leben hier das ganze Jahr. Aber eine Herausforderung bleibt: Sie brauchen eine einfache günstige Wohnung. Doch der Markt ist ausgetrocknet, die Mieten teuer.
«Ich betreibe heute weit mehr Diplomatie als seinerzeit in kantonalen Diensten: Fundraising ohne Ende. Gesuche an Berghilfe, Kanton und Gemeinde. Jahresberichte und VR-Protokolle. Das ruft nach einem Gegenpol».
Für den Ausgleich malt der zugewanderte Unternehmer Bilder und schreibt Geschichten. In Lavin hat er seinen Ort für Kultur und Kreativität gefunden.
Ein Glücksfall
Auch für Lucie und Rémy Bailloux ist das Unterengadin zur Heimat geworden. Die Geschwister betreiben in Ardez das Café «La Carsuot» mit französischer Patisserie, für die sie nur die besten Zutaten verwenden und Feinkost verkaufen.
Als Aussteiger sehen sie sich nicht: «Wir essen keine Wurzeln und leugnen auch nicht das System», sagt Rémy. Sie arbeiten viel, nur Lucie kann sich einen Lohn zahlen, «den man aber besser nicht auf die Stunde umrechnet.»
Rémy finanziert sich quer, er organisiert in seinem zweiten Geschäft Jagdreisen. Die beiden sind im französischen Savoyen aufgewachsen, kennen und lieben die Gegend aber seit ihrer Kindheit und wohnen heute im Nachbardorf Guarda.
Das Café in Ardez war ein Glücksfall: Es stand coronabedingt leer, sie konnten es zwischennutzen und nun bleiben, unbefristet. «Es war eine Chance, die haben wir ergriffen.»
Freunde von Lucie würden sie beneiden: «So jung und ein eigenes Geschäft», hätten sie gesagt. Neben dem Café betreiben die Geschwister zusammen mit ihrem Freund und Geschäftspartner Georg den Online-Handel «Garde-Manger» mit Delikatessen.
«Es muss sich nicht alles rechnen im Leben»
Georg und Rémy haben sich vor mehr als zehn Jahren in St. Gallen an der HSG kennengelernt. Lucie studierte Wirtschaft in Lausanne. Drei junge Menschen mit Wirtschaftsstudium betreiben ein Café in Ardez, einer 425-Seelen-Gemeinde?
«Rechnen kann sich das nicht», sage ich zu Rémy. Er erwidert: «Es muss sich nicht alles rechnen im Leben. Ich überlege manchmal, was mir zum Glücklichsein fehlt und es fällt mir nichts ein. Unser Geschäft weiter entwickeln vielleicht, aber sonst?»
Sie lieben die Kultur, die Menschen, die Natur. «Man muss nur rausgehen, und schon ist man in einer umwerfend schönen Gegend.»
Das Dorf braucht das Café
«Wir hatten kurz eröffnet, da kam der 13-jährige Sohn eines Bauern herein und sagte: «Gut, dass ihr da seid und das Café wieder offen ist», erzählt Lucie. Die Dörfer im Unterengadin «brauchen diese Orte, wo sich Menschen treffen können, die im Ort leben».
Morgens kämen die Frauen aus dem Dorf zum Café, die Männer am Nachmittag auf ein Bier, sagt ihr Bruder Rémy. Dazwischen bieten sie einen Mittagstisch an. Lucie und Rémy kaufen bei lokalen Produzenten, schätzen den Austausch und lernen dafür auch Romanisch.
«Wir wollen kein Fremdkörper sein». Ihr Dorf soll leben, das ganze Jahr über, nicht nur in der Feriensaison. Trotzdem: Vom Dorf allein können sie sich nicht finanzieren, sie brauchen die Touristen und Zweitwohnungsbesitzer.
Der Einsteiger
Auch Christian Portner sieht sich nicht als Aussteiger: «Ich bin immer nur eingestiegen, mein Leben lang. Vor vier Jahren stieg ich aus dem Postauto und verliebte mich sofort in dieses Sent.»
Wie er «Sent» sagt, sagt alles. Einen Grossteil seines Lebens hat er mit Zwischennutzungen verbracht. «Ich mache Projekte, in Zürich war ich zum Beispiel einer der ersten, der einen Vintage-Laden eröffnet hat.»
Ein ehemaliger Schulfreund gab ihm den Tipp: «Fahr mal nach Sent.» Gleich am Dorfplatz stehe ein Gebäude leer. «32 Kubikmeter Schutt und Müll habe ich rausgeholt, das ganze wieder «flott gemacht».
Heute veranstaltet er Anlässe und Ausstellungen. Eine Website gibt es so wenig wie Werbung, er betreibt nur einen Account auf Instagram. Der Rest ist Mund-Propaganda: Portner spricht sich rum.
«Ich hab’ Gold gefunden»
Neben Anlässen und Ausstellungen setzt Christian Portner noch auf etwas anderes: Er produziert Gelees, Sirup, Senf und Essig. Nicht irgendeinen Essig. In Sternerestaurants steht sein Essig auf dem Digestiv-Wagen für die, die keinen Alkohol wollen.
Die Früchte für seine Gelees sammelt er bis auf 2300 Metern Höhe: Schlehen, Wald-, Blau- und Himbeeren. Dazu komme das Wasser aus dem Norden, die Sonne aus dem Süden. «Einmalig, die Gegend. Ich habe mal auf einem Feld mit Schlüsselblumen gestanden, gelb, so weit du gucken kannst. Da habe ich gedacht: Ich hab Gold gefunden.»
Doch das Engadiner Haus war nur gemietet. Nach zwei Jahren wurde ihm gekündigt: Der Marktwert des Gebäudes war gestiegen. Gleich um die Ecke fand er ein Neues. Alles begann von vorne, angefangen beim Schutt Ausräumen. Portner hat das über 300 Jahre alte Haus mit mittelalterlichem Wohnturm im Originalzustand belassen und mit Antiquitäten gefüllt. Ein einmaliger Ort ist so entstanden.
Doch wieder erhält Portner die Kündigung. Im Juni muss er raus. Der Marktwert ist gestiegen. Er sucht noch nach einer nächsten Lösung. Wohnraum gibt es keinen. Als er mich zum Bus bringt, zeigt er auf ein Haus, sichtbar mit Geld herausgeputzt, sicher 16 Zimmer. «Das gehört zwei 70-Jährigen, die sind immer alleine da, zwei Wochen im Jahr, das war’s.» Er werde etwas Neues finden, er sei optimistisch.
Wieder zuhause
Sophie Badel ist zurückgekommen, um zu bleiben: Sie ist in Guarda aufgewachsen und betreibt heute genau da ein Restaurant mit Tradition: Die Crusch Alba.
Hier habe sie während der Schulzeit das erste Mal gekellnert. Später ging sie weg, erst für die Ausbildung, dann arbeitete sie in der Gastronomie, zuletzt im «Teufelhof» in Basel.
Dann habe sie erfahren, dass die alten Wirte der «Crusch Alba» aufhören. Zusammen mit ihrem Mann, der heute ihr Geschäftspartner ist, übernahm sie das Restaurant. «Es war wie heimkommen.»
In der Übernahmezeit merkte sie, dass sie schwanger ist: «Alles auf einmal. Umzug, Heimkommen, eigenes Restaurant, Kind.» Ohne ihre Eltern, die auch hier leben, würde sie das alles nicht schaffen.
Auch Sophie Badels Schwester kehrte zurück. Sie arbeitete zwischenzeitlich als Journalistin und hat jetzt in Guarda ein Atelier als bildende Künstlerin gefunden. Alle sind wieder zusammen. «Family Business», sagt Sophie Badel mit ihrem Kind auf dem Arm. 14 Monate alt ist ihr Sohn jetzt. Sie ist glücklich hier: «In so jungen Jahren ein eigenes Restaurant, das ist schon toll.»
«Das Unterengadin hat sich verändert»
Einfach sei es nicht, im Unterengadin noch etwas Eigenes zu finden. Die Einheimischen kämpfen mit dem gleichen Platzproblem wie die Zugezogenen. Eine junge Lehrerin habe vier Monate auf dem Campingplatz zugebracht, bis sie eine Wohnung fand.
Über die Wohnungsnot reden die Einheimischen untereinander. Ebenso die Zweitwohnungsbesitzer. «Miteinander reden sie kaum. Da muss sich etwas ändern. Schnell», sagt Sophie Badel.
Angekommen nach zwei Anläufen
Auch Gregory Fretz findet, es sei Zeit zu handeln. Er und seine Frau haben sich vor fast 20 Jahren als junge Assistenzärzte am Spital in Scuol kennengelernt. Schon damals war bezahlbarer Wohnraum schwer zu finden: Sie mieteten zusammen, lernten sich kennen. Heute haben sie vier Kinder.
Zwischenzeitlich zogen sie weg aus dem Unterengadin, aber immer wieder kamen Anfragen des Scuoler Spitals . Irgendwann waren sie in Sent und dachten: «Das ist es.» Seit sieben Jahren leben sie hier, er arbeitet mittlerweile vier Tage in Chur, sie zwei in Scuol.
Zwischen beiden Anläufen habe sich die Wohnungsnot verschärft. Jahrelang verkauften Engadiner ihre Häuser und bauten am Ortsrand vom Erlös ein neues. Doch das neue Raumplanungsgesetz erschwert in Zukunft das Bauen am Ortsrand. Immer mehr Ortsansässige finden deshalb keinen Wohnraum mehr.
«Dann wird’s schwierig»
Natürlich könnten sie sich hier ein altes Engadinerhaus kaufen. Aber wenn man nur 800’000 zahlen kann und aus dem Unterland 2.2 Millionen geboten werden, «dann wird’s schwierig», sagt Fretz. Das sei ausdrücklich kein Statement gegen Unterländer. «die Region und die Ortsansässigen profitieren in vielfältiger Weise vom Austausch mit den Zweitwohnungsbesitzern. Es entstehen Freundschaften.»
In den letzten Jahren ist aber das Gleichgewicht zunehmend aus dem Lot geraten. Deshalb engagiert sich Fretz im Verein «Anna Florin». Dem Verein geht es um lebendige Dörfer. Sonst, so ist die Befürchtung, sterben erst die Schulen, weil junge Familien keine Wohnung finden, dann der Dorfladen, die Beiz.
Das will keiner der Menschen, die ich im Unterengadin getroffen habe. Schliesslich fühlen sie sich als Teil davon. Sonst blieben tote Dörfer übrig, die nichts anderes wären als Kulissen für Sehnsüchte der Städter nach dem Authentischen.