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Neuanfang im Unterengadin
Aus Audio SRF 1 vom 11.03.2022. Bild: Linard Lavin / Markus Wicki
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Sehnsuchtsort Bergidylle Viele zieht es ins Unterengadin – und manche bleiben für immer

Sie haben das Unterengadin entdeckt und wollen nicht wieder weg. Sechs Neuanfänger und Rückkehrer über ihr Glück, das auch seine Tücken hat.

«Die Wurst ist vom Bauern da vorn im Dorf. So authentisch», ruft die deutsche Mutter quer durch den Einkaufsladen in Ardez ihrem Mann zu. Neben mir an der Kasse flüstert ein Basler Familienvater: «Es hat zu viele Touristen.»

Den Dialog gibt’s in jeder überrannten Destination, wenn sich Touristen über nichts so sehr aufregen wie über Touristen und die Region am liebsten exklusiv für sich alleine hätten, denke ich mir und nicke, selbst ein Tourist.

«Es gibt Tagestouristen und Einheimische, die werden aber immer weniger», erklärt mir einen Tag später eine Wirtin in Ftan: «Das liegt auch an den Zweitwohnungsbesitzern, den Unterländern». Das Zweitwohnungsgesetz habe für den Ausverkauf der Region gesorgt. «Man kann kaufen, muss aber nicht das ganze Jahr hier leben.»

Scuols Zweitwohnungen

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Der Anteil an Zweitwohnungen liegt um Scuol bei nahezu 60 Prozent. Hier geht es zur Schweizer Karte von Gemeinden mit einem Zweitwohnungsanteil von über 20 Prozent.

Schliesslich gebe es die, die ins Unterengadin kommen, um hier zu leben. Ich mache mich auf die Suche nach denen, die kamen, um zu bleiben – nach den Geschichten von Einheimischen und Engadin-Neuanfängern.

Verliebt in Lavin

Einer der «Dienstältesten» derer, die kamen, um zu bleiben, ist Hans Schmid. In Lavin betreibt er das Hotel «Piz Linard». Er kam aus St. Gallen in die Ferien nach Guarda, fuhr mit dem Mountain-Bike durch Lavin und verliebte sich ins Dorf.

Schlanker Mann mit dunklem Haar auf altem Sofa, ein Bein angewinkelt. In Raum aus Holz, rechts Kamin.
Legende: Um wieder selbst Ideen zu verwirklichen, zog Hans Schmid ins Bergdorf. Hier kann er gestalten. zvg / Hans Schmid, Lavin

Zuhause in St. Gallen war er Leiter des kantonalen Kulturamts. Er förderte Kultur, konnte zahlen, aber nichts gestalten. In Lavin gab es viel zu gestalten. Allein, es fehlte das Geld. Eine Totalsanierung war angezeigt.

Seine Altersvorsorge hat er aufgelöst, Gelder aufgetrieben. Mittendrin verliess ihn sein Architekt. «In der grössten Not hatte ich den besten Einfall», sagt er. Statt Geld zu sparen, gab er es richtig aus und liess die Eckzimmer seines Hotels von Künstlern gestalten, was ihm überregionale Presse einbrachte, «unbezahlte PR zuhauf», und zum Durchbruch verhalf. Unter anderem brachte es ihm die Auszeichnung «Historisches Hotel des Jahres 2018».

Raum mit gewölbter, weisser Decke. Hintere Wand aus rohem Stein, alte Holztüren. Neuer Holzboden, Ledersessel, Bücher.
Legende: Weg von Spannteppichen, hin zum Schlichten – wie hier in der Bibliothek: Hans Schmid holte das Linard Lavin Haus aus den 1980er-Jahren. Linard Lavin / Markus Wicki

Probleme machen erfinderisch

Dann kam die nächste Herausforderung: fehlendes Personal. Und mit ihr die nächste Idee: Er engagierte Talente ohne Diplom. Junge Menschen, die sich mit seinem Projekt identifizieren. Vom Mittelmeer und aus dem Balkan. Geflüchtete aus Tibet und Afghanistan. Sie machen die Seele seines Hauses aus. Ausbildung «on the job», zum vollen Lohn.

Foto von mehreren Häusern, alle in Blockform, flache Dächer. Weisslich bis gelb. Im Hintergrund Wiesen und Wald.
Legende: Die Sanierung des «Piz Linard» war komplexer als gedacht. Die Probleme häuften sich – beispielsweise der Brandschutz. Linard Lavin / Markus Wicki

Sie sind Teil des Dorfes, arbeiten und leben hier das ganze Jahr. Aber eine Herausforderung bleibt: Sie brauchen eine einfache günstige Wohnung. Doch der Markt ist ausgetrocknet, die Mieten teuer.

«Ich betreibe heute weit mehr Diplomatie als seinerzeit in kantonalen Diensten: Fundraising ohne Ende. Gesuche an Berghilfe, Kanton und Gemeinde. Jahresberichte und VR-Protokolle. Das ruft nach einem Gegenpol».

Für den Ausgleich malt der zugewanderte Unternehmer Bilder und schreibt Geschichten. In Lavin hat er seinen Ort für Kultur und Kreativität gefunden.

Ein Glücksfall

Auch für Lucie und Rémy Bailloux ist das Unterengadin zur Heimat geworden. Die Geschwister betreiben in Ardez das Café «La Carsuot» mit französischer Patisserie, für die sie nur die besten Zutaten verwenden und Feinkost verkaufen.

Eine junge Frau (links), etwas kleiner, mit buntem Haarband, weisse Schürze. Rechts junger Mann mit bunter Kochschürze
Legende: Die Geschwister Bailloux bringen Patisserie, Wild von der Jagd und Feinkosthandel zusammen. SRF/ Franz Kasperski

Als Aussteiger sehen sie sich nicht: «Wir essen keine Wurzeln und leugnen auch nicht das System», sagt Rémy. Sie arbeiten viel, nur Lucie kann sich einen Lohn zahlen, «den man aber besser nicht auf die Stunde umrechnet.»

Rémy finanziert sich quer, er organisiert in seinem zweiten Geschäft Jagdreisen. Die beiden sind im französischen Savoyen aufgewachsen, kennen und lieben die Gegend aber seit ihrer Kindheit und wohnen heute im Nachbardorf Guarda.

Das Café in Ardez war ein Glücksfall: Es stand coronabedingt leer, sie konnten es zwischennutzen und nun bleiben, unbefristet. «Es war eine Chance, die haben wir ergriffen.»

ein gelber Kuchen mit weiss bräunlichen Häubchen darauf. Dahinter eine verschwommene Steingasse, Häuser, blauer Himmel.
Legende: Lucies Kreation vor der Kulisse von Ardez. Garde-Manger

Freunde von Lucie würden sie beneiden: «So jung und ein eigenes Geschäft», hätten sie gesagt. Neben dem Café betreiben die Geschwister zusammen mit ihrem Freund und Geschäftspartner Georg den Online-Handel «Garde-Manger» mit Delikatessen.

«Es muss sich nicht alles rechnen im Leben»

Georg und Rémy haben sich vor mehr als zehn Jahren in St. Gallen an der HSG kennengelernt. Lucie studierte Wirtschaft in Lausanne. Drei junge Menschen mit Wirtschaftsstudium betreiben ein Café in Ardez, einer 425-Seelen-Gemeinde?

«Rechnen kann sich das nicht», sage ich zu Rémy. Er erwidert: «Es muss sich nicht alles rechnen im Leben. Ich überlege manchmal, was mir zum Glücklichsein fehlt und es fällt mir nichts ein. Unser Geschäft weiter entwickeln vielleicht, aber sonst?»

Sie lieben die Kultur, die Menschen, die Natur. «Man muss nur rausgehen, und schon ist man in einer umwerfend schönen Gegend.»

Das Dorf braucht das Café

«Wir hatten kurz eröffnet, da kam der 13-jährige Sohn eines Bauern herein und sagte: «Gut, dass ihr da seid und das Café wieder offen ist», erzählt Lucie. Die Dörfer im Unterengadin «brauchen diese Orte, wo sich Menschen treffen können, die im Ort leben».

Auslage von verschiedenen Kuchen und Törtchen: links dunkle Schnitten, in der Mitte runde Tartelette, rechts ein Mousse.
Legende: Ein Treffpunkt mit süsser Auswahl – und die ist ausgefallen für Ardez, kommt aber an. Garde-Manger

Morgens kämen die Frauen aus dem Dorf zum Café, die Männer am Nachmittag auf ein Bier, sagt ihr Bruder Rémy. Dazwischen bieten sie einen Mittagstisch an. Lucie und Rémy kaufen bei lokalen Produzenten, schätzen den Austausch und lernen dafür auch Romanisch.

«Wir wollen kein Fremdkörper sein». Ihr Dorf soll leben, das ganze Jahr über, nicht nur in der Feriensaison. Trotzdem: Vom Dorf allein können sie sich nicht finanzieren, sie brauchen die Touristen und Zweitwohnungsbesitzer.

Der Einsteiger

Auch Christian Portner sieht sich nicht als Aussteiger: «Ich bin immer nur eingestiegen, mein Leben lang. Vor vier Jahren stieg ich aus dem Postauto und verliebte mich sofort in dieses Sent.»

Mann mit blauem Hemd und blauen Augen, schaut verschmitzt in die Kamera. Dahinter eine alte Hauswand, rosa Blumen.
Legende: Christian Portner kreiert vielseitig in Sent – von Ausstellungen bis zu Essig und Gelees. zvg / Christian Portner

Wie er «Sent» sagt, sagt alles. Einen Grossteil seines Lebens hat er mit Zwischennutzungen verbracht. «Ich mache Projekte, in Zürich war ich zum Beispiel einer der ersten, der einen Vintage-Laden eröffnet hat.»

Ein ehemaliger Schulfreund gab ihm den Tipp: «Fahr mal nach Sent.» Gleich am Dorfplatz stehe ein Gebäude leer. «32 Kubikmeter Schutt und Müll habe ich rausgeholt, das ganze wieder «flott gemacht».

Heute veranstaltet er Anlässe und Ausstellungen. Eine Website gibt es so wenig wie Werbung, er betreibt nur einen Account auf Instagram. Der Rest ist Mund-Propaganda: Portner spricht sich rum.

«Ich hab’ Gold gefunden»

Neben Anlässen und Ausstellungen setzt Christian Portner noch auf etwas anderes: Er produziert Gelees, Sirup, Senf und Essig. Nicht irgendeinen Essig. In Sternerestaurants steht sein Essig auf dem Digestiv-Wagen für die, die keinen Alkohol wollen.

kleine Gläschen mit orange, rotem, dunklem und violettem Gelee gefüllt. In einer Reihe auf Holzbalken aufgestellt.
Legende: Von Weissdorn bis zu wilden Pflaumen. Christian Portners Engadiner Gelees. zvg / Christian Portner

Die Früchte für seine Gelees sammelt er bis auf 2300 Metern Höhe: Schlehen, Wald-, Blau- und Himbeeren. Dazu komme das Wasser aus dem Norden, die Sonne aus dem Süden. «Einmalig, die Gegend. Ich habe mal auf einem Feld mit Schlüsselblumen gestanden, gelb, so weit du gucken kannst. Da habe ich gedacht: Ich hab Gold gefunden.»

Doch das Engadiner Haus war nur gemietet. Nach zwei Jahren wurde ihm gekündigt: Der Marktwert des Gebäudes war gestiegen. Gleich um die Ecke fand er ein Neues. Alles begann von vorne, angefangen beim Schutt Ausräumen. Portner hat das über 300 Jahre alte Haus mit mittelalterlichem Wohnturm im Originalzustand belassen und mit Antiquitäten gefüllt. Ein einmaliger Ort ist so entstanden.

Doch wieder erhält Portner die Kündigung. Im Juni muss er raus. Der Marktwert ist gestiegen. Er sucht noch nach einer nächsten Lösung. Wohnraum gibt es keinen. Als er mich zum Bus bringt, zeigt er auf ein Haus, sichtbar mit Geld herausgeputzt, sicher 16 Zimmer. «Das gehört zwei 70-Jährigen, die sind immer alleine da, zwei Wochen im Jahr, das war’s.» Er werde etwas Neues finden, er sei optimistisch.

Wieder zuhause

Sophie Badel ist zurückgekommen, um zu bleiben: Sie ist in Guarda aufgewachsen und betreibt heute genau da ein Restaurant mit Tradition: Die Crusch Alba.

links junge Frau mit rötlichen Locken und roten Lippen, rechts Mann in weissem Kochkittel. Beide lächeln in Kamera
Legende: Sophie Badel und Felix Hüfner führen gemeinsam die «Crusch Alba». in Guarda. zvg / Jérémie Sarbach

Hier habe sie während der Schulzeit das erste Mal gekellnert. Später ging sie weg, erst für die Ausbildung, dann arbeitete sie in der Gastronomie, zuletzt im «Teufelhof» in Basel.

Dann habe sie erfahren, dass die alten Wirte der «Crusch Alba» aufhören. Zusammen mit ihrem Mann, der heute ihr Geschäftspartner ist, übernahm sie das Restaurant. «Es war wie heimkommen.»

In der Übernahmezeit merkte sie, dass sie schwanger ist: «Alles auf einmal. Umzug, Heimkommen, eigenes Restaurant, Kind.» Ohne ihre Eltern, die auch hier leben, würde sie das alles nicht schaffen.

Grosses Haus vor rötlichem Sonnenuntergangs-Himmel. Grau angestrichen mit weissen Verzierungen.
Legende: In der «Crusch Alba» trifft grosse Kulinarik auf Engadiner Charme. zvg / Sophie Badel

Auch Sophie Badels Schwester kehrte zurück. Sie arbeitete zwischenzeitlich als Journalistin und hat jetzt in Guarda ein Atelier als bildende Künstlerin gefunden. Alle sind wieder zusammen. «Family Business», sagt Sophie Badel mit ihrem Kind auf dem Arm. 14 Monate alt ist ihr Sohn jetzt. Sie ist glücklich hier: «In so jungen Jahren ein eigenes Restaurant, das ist schon toll.»

«Das Unterengadin hat sich verändert»

Einfach sei es nicht, im Unterengadin noch etwas Eigenes zu finden. Die Einheimischen kämpfen mit dem gleichen Platzproblem wie die Zugezogenen. Eine junge Lehrerin habe vier Monate auf dem Campingplatz zugebracht, bis sie eine Wohnung fand.

Über die Wohnungsnot reden die Einheimischen untereinander. Ebenso die Zweitwohnungsbesitzer. «Miteinander reden sie kaum. Da muss sich etwas ändern. Schnell», sagt Sophie Badel.

Angekommen nach zwei Anläufen

Auch Gregory Fretz findet, es sei Zeit zu handeln. Er und seine Frau haben sich vor fast 20 Jahren als junge Assistenzärzte am Spital in Scuol kennengelernt. Schon damals war bezahlbarer Wohnraum schwer zu finden: Sie mieteten zusammen, lernten sich kennen. Heute haben sie vier Kinder.

Mann mit dunklem Haar und grauem Pulli lehnt an Holzbalkon, dahinter die Berge und blauer Himmel
Legende: Gregory Fretz arbeitet heute im Kantonsspital in Chur und lebt in Sent. zvg Gregory Fretz

Zwischenzeitlich zogen sie weg aus dem Unterengadin, aber immer wieder kamen Anfragen des Scuoler Spitals . Irgendwann waren sie in Sent und dachten: «Das ist es.» Seit sieben Jahren leben sie hier, er arbeitet mittlerweile vier Tage in Chur, sie zwei in Scuol.

Zwischen beiden Anläufen habe sich die Wohnungsnot verschärft. Jahrelang verkauften Engadiner ihre Häuser und bauten am Ortsrand vom Erlös ein neues. Doch das neue Raumplanungsgesetz erschwert in Zukunft das Bauen am Ortsrand. Immer mehr Ortsansässige finden deshalb keinen Wohnraum mehr.

Video
Teurer Wohnraum in Bergregionen
Aus Schweiz aktuell vom 09.02.2022.
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«Dann wird’s schwierig»

Natürlich könnten sie sich hier ein altes Engadinerhaus kaufen. Aber wenn man nur 800’000 zahlen kann und aus dem Unterland 2.2 Millionen geboten werden, «dann wird’s schwierig», sagt Fretz. Das sei ausdrücklich kein Statement gegen Unterländer. «die Region und die Ortsansässigen profitieren in vielfältiger Weise vom Austausch mit den Zweitwohnungsbesitzern. Es entstehen Freundschaften.»

In den letzten Jahren ist aber das Gleichgewicht zunehmend aus dem Lot geraten. Deshalb engagiert sich Fretz im Verein «Anna Florin». Dem Verein geht es um lebendige Dörfer. Sonst, so ist die Befürchtung, sterben erst die Schulen, weil junge Familien keine Wohnung finden, dann der Dorfladen, die Beiz.

Das will keiner der Menschen, die ich im Unterengadin getroffen habe. Schliesslich fühlen sie sich als Teil davon. Sonst blieben tote Dörfer übrig, die nichts anderes wären als Kulissen für Sehnsüchte der Städter nach dem Authentischen.

SRF1, Schweiz Aktuell, 09.02.2022, 19:00 Uhr

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