Bezahlbare Wohnungen für Einheimische sind im Engadin schon lange Mangelware. Doch in den letzten Jahren hat sich das Problem deutlich verschärft. Weil viele alte Wohnungen zu Ferienwohnungen umgebaut wurden, fehlen diese nun als Wohnraum für Einheimische.
Nora Saratz Cazin ist Präsidentin der Oberengadiner Gemeinde Pontresina. Sie erhalte immer häufiger E-Mails von Einwohnerinnen und Einwohnern auf Wohnungssuche, «Einwohner, die die Kündigung erhalten haben und denen mitgeteilt wurde, dass ihre Wohnung verkauft werde.»
Die Suche nach einer Bleibe wird für viele zur Odyssee. Riet Fanzun ist Architekt und Sprecher des noch jungen Vereins «Anna Florin». Dieser kämpft im Unterengadin für mehr Wohnraum. Mit Sorge beobachtet er, wie alte Engadiner Häuser an eine zahlungskräftige Klientel aus dem Unterland verkauft werden.
Preise schiessen in die Höhe
Es komme zu Bieterkämpfen zwischen Einheimischen und Ferienwohnungsinteressenten. «Das treibt die Preise in die Höhe», so Fanzun. Der Einheimische könne sich meist nicht leisten, soviel zu bieten wie der Fremde.
Zahlen des Bundes zeigen: Der Anteil an Zweitwohnungen ist im Engadin in den letzten fünf Jahren um einige Prozentpunkte gestiegen, gleichzeitig ist der Anteil an günstigem Wohnraum gesunken. Doch wie ist das möglich, trotz angenommener Zweitwohnungsinitiative? Die Initiative forderte ja, dass in Gemeinden mit mehr als 20 Prozent Ferienwohnungen keine neuen gebaut werden dürfen.
Pandemie und Zweitwohnungsgesetz als Gründe
Damian Jerjen ist Direktor des Schweizer Raumplanungsverbands EspaceSuisse. Das Zweitwohnungsgesetz lasse Umnutzungen bei sogenannt altrechtlichen Wohnungen zu, die bereits bei der Annahme der Zweitwohnungsinitiative existierten. «So kann es sein, dass der Zweitwohnungsanteil in einer Gemeinde steigt, obwohl dieser schon bei über 20 Prozent liegt», sagt Jerjen.
Für die Gemeindepräsidentin von Pontresina ist klar, dass diese Regelung im Zweitwohnungsgesetz das Wohnungsproblem verschärft hat. Sie spricht von einer «unerwarteten und unerwünschten Folge der Zweitwohnungsinitiative».
Diese Zweitwohnungen führen oft dazu, dass die Abwanderung noch verstärkt wird.
Nora Saratz Cazin ist aber auch überzeugt, dass die Coronapandemie ihren Teil beigetragen hat. Die Nachfrage nach Ferienwohnungen sei deutlich gestiegen. «Homeoffice ist möglich, man hat gesehen, was es für Vorteile hat, auf dem Land zu arbeiten, ohne den Job in der Stadt aufgeben zu müssen», sagt die Gemeindepräsidentin.
Problem existiert auch andernorts
Ähnlich sieht es auch Raumplanungsexperte Jerjen. Betroffen sei längst nicht nur das Engadin. In den touristischen Regionen, im Wallis, im Tessin oder im Berner Oberland, existiere das Problem ebenfalls. Besonders stark treffe es Gemeinden, die sowieso schon mit Bevölkerungsrückgang zu kämpfen hätten.
Man muss schauen, ob es Liegenschaften gibt, die die Gemeinde übernehmen könnte.
«Diese Zweitwohnungen führen oft dazu, dass die Abwanderung noch verstärkt wird», sagt Jerjen. Es gebe Mittel, um dieser Entwicklung entgegenzutreten. «Es könnten Zonen, ausschliesslich für Erstwohnungen, ausgeschieden werden.» Denkbar seien auch finanzielle Anreize oder Lenkungsmassnahmen, um die Umnutzung von Wohnungen zu steuern.
In Pontresina macht man sich im Gemeindevorstand Gedanken, selbst im Immobilienmarkt aktiv zu werden. «Man muss schauen, ob es Liegenschaften gibt, die die Gemeinde übernehmen könnte», sagt die Gemeindepräsidentin. So könnte sichergestellt werden, dass diese Wohnungen weiterhin als Erstwohnungen für Einheimische erhalten bleiben.