In meinem Alltag fällt mir immer wieder auf, wie sehr sich die Sprache der Wirtschaft ins Zwischenmenschliche geschlichen hat. Als ich kürzlich eine Familie zu uns zum Essen einlud, schaute ich in betretene Gesichter. «Das geht nicht», sagte mir mein Gegenüber. «Wir waren letztes Mal bei euch. Jetzt sind wir dran.»
Es scheint also ein ungeschriebenes Gesetz von «Dransein» zu geben. Muss die Zahl der Einladungen immer annähernd gleich sein, weil sonst die eine Seite das Gefühl hat, der anderen etwas schuldig zu bleiben?
Die Rechnung, bitte!
Auch sonst stolpere ich über viele Formulierungen, die direkt aus dem Ökonomielehrbuch stammen könnten: «Dieser Film lohnt sich nicht.» «Was bringt mir das?» Oder: «Der steht bei mir hoch im Kurs.» Von Humankapital ist die Rede. Die Personalabteilung heisst heute Human Resources.
In der S-Bahn hörte ich neulich jemanden ins Telefon jammern: «Und dabei habe ich so viel in unsere Beziehung investiert.» Wenn man das weiterdenkt und auf die Spitze treibt, fragt man sich: Wie geht dieses Investment ganz praktisch vor sich? Haben Zuneigung und Liebe Kursschwankungen? Werfen sie Renditen ab? Was ist mit dem Return on Investment? Muss etwas zurückkommen?
Ökonomisierung des Zwischenmenschlichen
Noch inflationärer wird das Wort «Wertschätzung» eingesetzt. An ihr mangelt es anscheinend in fast allen sozialen Bereichen, von der Partnerin bis zum Chef. Je nach sozialem Kontext wird Unterschiedliches erwartet.
Beim Partner meint es vielleicht, dass man in den Arm genommen werden möchte. Beim Chef dagegen: «Ersetzen Sie die lauwarmen Worte bitte durch einen Bonus.»
Bei Therapeutinnen und Therapeuten, höre ich, sitzen Paare, die «Bilanz ziehen», wenn die Beziehung «abgewirtschaftet ist». Jemand «zahlt drauf». Welche Wortwahl!
Derzeit kann im Bernischen Historischen Museum die Ausstellung «Das entfesselte Geld» besucht werden. «Entfesselung» trifft es. Wie sehr das Geld die Welt umgekrempelt hat, ist dort zu erfahren.
Diese Erfindung breitet sich weit über das Wirtschaftliche hinausgehend bis ins Denken aus. Die Kosten-Nutzen-Rechnung hat längst das Soziale erfasst. Folgt man der Soziologin Eva Illouz, kann man von einer ökonomischen Durchdringung des (Zwischen-)Menschlichen sprechen.
Illouz weist in ihren Arbeiten nach, wie stark Beziehungen Marktgesetzen unterworfen sind und einem Konsumverhalten entsprechen: Rentierten sie nicht mehr, gebe man sie auf. Der Marktwert einer Person werde in Dating-Plattformen taxiert. Sei man älter als 50, könne man auf einigen Portalen gar kein Profil mehr eröffnen. Dann sei man nicht mehr wettbewerbsfähig, nichts mehr wert.
Körper als Ware
Der Journalist und Theaterautor Jörn Klare hat einen ganz anderen Zugang zum Thema Geld und Würde. Vor einigen Jahren publizierte er das Buch «Was bin ich wert? – Eine Preisermittlung.»
Dass er dazu kam, den Wert eines Menschen zu berechnen, hat einen ernsten Hintergrund: Er habe lange zum Thema Menschenhandel recherchiert, erzählt der Journalist, etwa in Nepal oder Bolivien.
«Menschen wurden verkauft, Babys, Frauen für die Prostitution, Körperteile. Alles war mit Preisen versehen», sagt Klare. Das Erlebte machte ihn fassungslos.
Schock in der U-Bahn
In der Berliner U-Bahn hörte der Journalist ein Gespräch von zwei jungen Männern mit. Kurz zuvor war in Berlin ein Taxifahrer ermordet worden. Ein Raubmord. Die Beute betrug etwa 100 Euro. «Der eine sagte: ‹Für 100 Euro einen Menschen umzubringen, das ist absurd.› Der andere sagte: ‹Für 100.000 vielleicht.›»
«Ich erwischte mich zu spät dabei, dass ich dachte: Eine Million muss es schon sein», erinnert sich Klare. »Ich habe nachgedacht. Was ist da gerade – auch mit mir – passiert? Das war der initiale Moment, von da an hat mich das Thema interessiert.»
Sperma und andere «Spenden»
In Moldawien habe er mit Leuten gesprochen, die ihre Niere illegal verkaufen wollten. Aber auch in Westeuropa könnten Menschen Bestandteile ihres Körpers zu Geld machen. So könne man seine Haare verkaufen oder «sein Sperma spenden, verkaufen sagt man nicht».
Bei ihm sei das allerdings nicht mehr möglich: «Über 40 ist man uninteressant für Samenbanken.» Die Spermienqualität sei dann nicht mehr gut genug. Bei Eizellenspenden denke man ähnlich ökonomisch: «Die Eizellen einer Harvard-Absolventin sind teurer als die Eizelle einer weniger gebildeten Frau.»
Der Wert eines Menschen werde von vielen Stellen berechnet. Versicherungen rechnen, ältere Dialysepatienten haben es in England schwer. Bei Schadensersatzklagen fällen Gerichte Urteile und taxieren den Wert eines abgetrennten Körperteils.
Was ist mir mein Nachbar wert?
Auch Klare selbst stellte sich für sein Buch die Frage, wer ihm wie viel wert ist. Solche Gedankengänge seien so alt wie die Menschheit, sagt der Journalist. «Sie regeln einen Teil des Zusammenlebens und des Verhaltens.»
Für sein Kind etwa würde Klare alles hergeben, schreibt er. Und für seinen Nachbarn? Der war «mir schon deutlich weniger wert.» Der Nachbar habe das Buch gelesen. «Da gab es einiges zu besprechen.»
Mit zweierlei Mass gemessen
Auch der Fall der Anschläge vom 11. September 2001 sei in dieser Hinsicht interessant. Der amerikanische Jurist Kenneth Feinberg wurde beauftragt, die Entschädigungszahlungen auszuhandeln. Insgesamt ging es um 7 Milliarden US-Dollar. Feinberg sollte ein System entwickeln, das entscheidet, welche Hinterbliebenen wie viel erhielten.
Eine Methode bestand darin, einzuschätzen, wie viel ein Mensch in seinem Leben noch hätte verdienen können, erklärt Klare, der Feinberg interviewt hat.
Dabei sei es zu schrecklichen Szenen gekommen ist, weil der Jurist alle Angehörigen persönlich traf. «Eine Feuerwehrwitwe fragte: ‹Wieso bekomme ich nur das für meinen Mann, der sein Leben riskiert hat, und die Frau eines Bankers bekommt mehr?›
Beim Humankapital-Ansatz lässt sich der Wert des Menschen danach berechnen, was in seine Bildung investiert wurde. Wie sehr lohnt sich ein geisteswissenschaftliches, betriebswirtschaftliches oder ein Ingenieursstudium aus Sicht des Bruttoinlandproduktes?
Die Ergebnisse differieren, «je nachdem, ob jemand Impfstoffe entwickelt, die volkswirtschaftlich grössere Beiträge generieren oder ob jemand ein zwar grossartiges Buch schreibt, das sich aber nicht verkauft.»
Das Experiment im Fussballstadion
Eine weitere Methode, schreibt Klare, sei der «Wert eines statistischen Lebens». Sie wird vor allem in den USA angewandt, aber auch in Deutschland. Sie beruht auf einem Gedankenexperiment, das helfen soll, den Wert eines Menschenlebens einzuschätzen.
Dazu sollen sich Menschen vorstellen, sie befänden sich in einem Fussballstadion mit 100’000 Personen. Eine Durchsage würde verkünden, dass eine davon sterben müsse. Nun frage man: «Was bist du bereit zu zahlen, dass es nicht dich trifft?» Da mache jede und jeder eine Risikoanalyse und nenne eine Summe.
Diese Beträge würden gemittelt und in das Verhältnis zum Risiko gesetzt. So erhalte man vereinfacht dargestellt den statistischen Wert eines Lebens.
In einigen Ländern gehe man basierend auf dieser Methode von einem Wert von ungefähr einer Million Franken aus. Damit werde in einigen Lebensbereichen gerechnet, sagt Jörn Klare.
«Tut es ein Zebrastreifen nicht auch?»
Eine ähnliche Kosten-Nutzrechnung mit Menschenleben wird auch bei der Fussgängerampel eingesetzt. Die Ampel kostet Geld, kann aber Leben retten. Doch was genau sind diese Leben wert? Rentiert sich die Investition? Eine einfache Kosten-Nutzrechnung mit Menschenleben.
Theoretisch könne man auch konkret fragen, ob sich eine Fussgängerampel eher vor einem Kindergarten oder einem Altenheim lohnt. Und: Tut es nicht vielleicht auch ein Zebrastreifen? Ähnliche Kosten-Nutzen-Rechnungen gebe es in der Schweiz etwa beim Lawinenschutz.
Lottogewinn Gesundheit
Der britische Autor Steve Henry, der von Jörn Klare zitiert wird, hat 1000 Menschen befragt, welches Glücksgefühl ein Lottogewinn auslösen würde und was den Befragten dieses Gefühl wert sei. Er hat 50 Glückszustände dazu in Beziehung gesetzt.
Das fängt beim Torschuss der geliebten Mannschaft an und geht über eine gute Nachricht, die eigene Gesundheit betreffend und erfüllenden Sex bis hin zum Lachen der eigenen Kinder.
Danach hat Henry alle Ergebnisse in bare Münze umgerechnet. Das Resultat: Noch höher im Kurs als der Satz «Ich liebe dich» steht die eigene Gesundheit.
Wie viel Würde haben Demente?
Ob all diesen Zahlen geht gerne vergessen, dass der rechnerische Wert eines Menschen nichts mit seiner Würde zu tun hat. Da komme eine moralisch-ethische Diskussion auf uns zu, sagt Klare. Denn mit der demografischen Entwicklung sei wahrscheinlich, dass viele «von Demenz heimgesucht werden.» Da stelle sich die Frage, wie viel Würde man solchen Menschen noch beimessen wolle.
Für den Journalisten ist die Würde des Menschen nicht teilbar. Sie gelte absolut. Wenn demente Menschen davon ausgeschlossen werden, beziehungsweise «ihre Würde infrage gestellt wird», bestehe die Gefahr, «dass jemand zu rechnen beginnt, besonders wenn die Ressourcen knapp werden.» Da brauche es nicht mehr viel, damit es plötzlich heisst: «Da können wir auch wieder 10-Bett-Zimmer machen.»
Das geht nicht nur ältere Menschen an. Denn eines Tages werde ich, werden wir Jüngeren, entscheiden müssen, was uns eine würdevolle Unterbringung unserer Eltern wert ist.