Vor einem Jahr starben acht Bergwanderer beim Abstieg von der Sciorahütte ins Val Bondasca in einem Bergsturz. Die Gewalt des Sturzes war zwar unerwartet. Trotzdem stand sofort die Frage nach der Verantwortung im Raum. Die Staatsanwaltschaft ermittelt noch heute, ob man Wege hätte sperren, besser hätte warnen müssen.
Im Falle einer Katastrophe steigt aus Pietätsgründen die Hemmung, nach der Eigenverantwortung zu fragen. Auch zu fragen, welche Risiken Wanderer wohlwissend eingehen oder welche Risiken sie schlicht falsch einschätzen.
Manche Menschen gehen gewollt Risiken ein
Nur, ob Warnung oder gar Verbot, oft nütze das alles gar nichts, sagt der Tiroler Psychologieprofessor Bernhard Streicher. Er hat sich auf das Risikoverhalten der Menschen im Alpenraum spezialisiert und stellt fest: «Ein Verbotsschild wird als Einschränkung der individuellen Freiheit empfunden und eher missachtet.»
Hinzu kommt: Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er neigt dazu, das zu tun, was andere tun. Den Beweis dafür liefert eine Gruppe Inder aus Austin, Texas, auf dem alpinen Walliser Europaweg. Das Onlineportal Tripadvisor hatte sie zu einer Wanderung zur längsten Hängebrücke der Welt oberhalb des Dorfes Randa inspiriert.
Falsche Erwartungen und Vorstellungen
Wandererfahrung hätten sie keine, meint Zahra, die mit Espadrilles beschuht am Picknicktisch sitzt: «Es hiess schon, der Aufstieg sei streng. Aber als wir sahen, dass da sogar kleine Kinder hochwandern, dachten wir, das können wir auch».
Zahra und ihre Freunde hatten keine Vorstellung, dass ihnen der Ausflug einen mehrstündigen, steilen Aufstieg auf fast 2300 Meter bescheren würde. Sie wussten auch nicht, dass die knapp 500 Meter lange Brücke existiert, um ein Rutschgebiet zu überqueren.
Hotelière Rosa Allmendinger unten im Dorf Herbriggen lacht nur, wenn sie solche Geschichten hört und doppelt nach: «Neulich wollte einer mit dem Auto zur Hängebrücke fahren. Er habe in der Alphütte ein Zimmer reserviert.»
Den Touristen einfach Unwissen vorzuwerfen, sei aber zu kurz gegriffen, sagt Risikoforscher Streicher. Er verweist darauf, dass der Sommertourismus in den Alpen immer öfter mit lustigen Attraktionen gefördert wird. Es laufe eine Art Eventisierung: «Man bekommt den Eindruck, alles ist sicher und macht Spass.» Genügend gewarnt würde aber oft nicht.
Falsche Einschätzung macht alles noch gefährlicher
Wanderer erleben auch Situationen, in denen sie Risiken automatisch falsch einschätzen. Bernhard Streichers Studien belegen, dass Risiken unterschätzt werden, wenn sie abstrakt sind: «Angenommen, ich gelange auf einer Wanderung an ein Schild, das mich vor einem Bergsturz warnt. Nun steht das Schild aber mitten im Wald, und ich sehe die unmittelbare Gefahr, also den Berg nicht. In einer solchen Situation tendieren wir dazu, die Gefahr zu unterschätzen.»
Gefährlicher wandert auch, wer mit einer Gruppe Gleichgesinnter ohne klare Führung unterwegs ist. «Es entsteht eine Verantwortungsdiffusion», erklärt Streicher: «Ist dem Wanderer an der Spitze unwohl, und die anderen folgen ihm, denkt der, ‘wird schon ok sein’. Die Wanderer hinten denken, ‘der vorne wird schon wissen was er tut’, also wandert man weiter».
Untersuchungen bei Lawinenunglücken zeigen zudem, dass am ehesten verunfallt, wer viel theoretisches Wissen hat, aber wenig Praxiserfahrung. Bernhard Streicher: «Diese Menschen gehen grössere Risiken ein, weil sie meinen, viel zu wissen».
Letztlich entstehen gefährliche Situationen auch dann, wenn viel in die Vorbereitung einer Tour investiert wurde. «Je grösser der Aufwand, ein Vorhaben umzusetzen, desto grösser die Überwindung, eine Tour abzubrechen.»
Lieber umdrehen, wenn's brenzlig wird
Wer wandert, tut also gut daran, sich vor dem Abmarsch vor Ort zu informieren und einen möglichen Abbruch immer ins Auge zu fassen. «Weil man dauernd damit rechnet, dass die Tour misslingen könnte, fühlt es sich weniger schlimm an, wenn es dann tatsächlich passiert. Das Gefühl von Verlust wird kleiner».
Und wie stehts um die Naturgefahren? Zwar ist aus den Daten der Bergunfallstatistik des SAC von 2017 kein eindeutiger Trend zu höheren Unfallzahlen wegen Berg- und Felsstürzen erkennbar.
Aber, so schreibt Ueli Mosimann von der Fachgruppe Sicherheit des Alpen-Clubs: «Insgesamt wird für den Bergsport im Sommer vor allem der Gletscher- und Firnschwund im hochalpinen Gelände mehr und mehr problematisch.»
Es entstünden Spalten und heikle Übergänge zwischen Fels und Eis. Auch Felder, auf denen Eis- und Schneedecken wegschmelzen und so loses Geröll zu Tage fördern, erschweren vielerorts die Routen. Die Gefahr, dass man stürzen oder abstürzen könnte, steige.
August und September sind übrigens die gefährlichsten Monate für Berggänger. Da sind die Berge am ehesten in Bewegung, weil der Boden am wärmsten ist. Vorsicht bleibt deshalb die Mutter der Porzellankiste, besonders jetzt, da ein schöner Wanderherbst lacht.