Lord Bramall hat eine Biografie, wie sie nur das 20. Jahrhundert schreibt. Er wurde 1923 geboren, als Europa noch an den Nachwehen des Ersten Weltkriegs litt. Bramall erlebt als Teenager, wie erneut dunkle Wolken über Europa aufziehen: Hitlers Machtergreifung, der Siegeszug der deutschen Wehrmacht durch Europa, die Bombardierung der englischen Städte.
Die Invasion
Am 6. Juni 1944 zieht auch er in den Krieg. Bei stürmischem Wetter überquert er mit der grössten Flotte aller Zeiten den Ärmelkanal: «Ich erinnere mich an die tausenden Schiffe, die Flugzeuge über unseren Köpfen, die schweren Schiffsgeschütze, die die Küste beschossen. Das alles war sehr beeindruckend.» Es ist die lang erwartete Invasion, der Frontalangriff der Briten, Amerikaner und Kanadier auf Hitlers sogenannten «Atlantikwall».
Leutnant Bramall ist 20 Jahre alt, als er am 7. Juni, also ein Tag nach dem D-Day, am Juno-Beach, dem kanadischen Landeabschnitt in der Normandie, an Land geht. Es ist sein erster Kampfeinsatz. «Wir wussten, dass es für die Alliierten ums Ganze ging. Natürlich hatten wir Angst, aber weniger um uns selbst, als viel mehr davor, als junge Offiziere zu versagen, nicht zu leisten, was von uns erwartet wurde.» Bramall versagt nicht.
Er übersteht die wochenlangen brutalen Kämpfe in der Normandie, manchmal gegen fanatische Einheiten der Waffen-SS. Zehntausende Soldaten und französische Zivilisten kommen um. Dass Bramall überlebt, ist nichts anderes als Glück: «Manchmal habe ich mich vor dem Einschlafen gefragt, ob ich je wieder aufwache. Ich hatte einige sehr üble Erlebnisse. Einmal ist eine Granate eingeschlagen. Rund um mich waren alle tot, ausser mir».
Der totale Krieg
«Unsere Angriffe waren ähnlich wie jene im Ersten Weltkrieg», erinnert sich Bramall. «Wir haben die hervorragenden deutschen Einheiten langsam aufgerieben. Nicht sehr innovativ, aber am Ende haben wir erreicht, was wir wollten.» Ende Juli durchbrechen die Alliierten die deutsche Verteidigung in der Normandie, am 25. August ist Paris befreit.
Edwin Bramall rückt mit den britischen Truppen in Richtung Deutschland vor. In Holland verdient er sich einen Tapferkeitsorden, als er während einer Patrouille in einem dichten Wald beschossen wird. Der legendäre Feldmarschall Montgomery heftet ihm die Medaille an die Brust. Edwin Bramalls Marsch durch Europa endet schliesslich in Hamburg, das die britische und die US-Luftwaffe in Schutt und Asche gelegt haben.
Es ist nur eine traurige Folge des Zweiten Weltkriegs: Bramall erinnert sich an die vielen Vertriebenen, er erzählt davon, was die britischen Truppen antrafen, die das Konzentrationslager Bergen-Belsen befreiten. «Wir haben den totalen Krieg gesehen, auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit im grossen Stil», erzählt er. Und angesprochen auf die heute umstrittene Zerstörung deutscher Städte sagt Bramall: «Manche von uns dachten: ‹Egal, was wir Deutschland antun müssen, es ist gerechtfertigt, um dieses schreckliche Regime zu besiegen.› Dazu gehörte auch die Bombardierung der deutschen Städte.»
Am 8. Mai 1945 endet der Krieg in Europa. Bramall meldet sich für den Einsatz gegen Japan und sieht am Ende auch die letzte schreckliche Folge des totalen Krieges: Hiroshima – von einer Atombombe völlig zerstört.
Die unvorstellbaren Konsequenzen des Scheiterns
Edwin Bramall bleibt in der Armee. Er erreicht den Rang eines Feldmarschalls, in den 1980er-Jahren besetzt er als Generalstabschef den höchsten Posten im britischen Militär. Er ist nun Lord Bramall, oder für seine Freunde einfach «Dwin» – einer der wenigen noch lebenden D-Day-Veteranen und einer der besten Kenner der Operation.
Denkt er heute noch an den D-Day? Nein, heute sei es der Brexit, der ihm den Schlaf raube. Er, der in den Krieg zog, um Europa zu befreien, hat für einen Verbleib Grossbritanniens in der EU gestimmt. Und im Abstimmungskampf hat er einmal jene zurechtgewiesen, die die EU mit Hitlerdeutschland verglichen.