Martin Kellerhals (68) sitzt am Esstisch in seinem Einfamilienhaus in Zofingen und erzählt vom 17. Dezember 2009. Wie er im KKL in Luzern ein klassisches Konzert besuchen wollte. Wie er plötzlich einen grossen Schmerz im Kopf verspürte. Wie er an einen ruhigen Ort wollte. Und wie ihn dann seine Frau ins Spital brachte.
Nach der Hirnblutung habe er zuerst gar nicht, und dann nicht mehr richtig sprechen können, erzählt Kellerhals. Er habe englisch gesprochen, vielleicht, weil er in den 1970er Jahren in Südafrika gewesen sei. Und er habe in Zahlen gesprochen. Erst später sei das Schweizerdeutsche wieder gekommen.
Wie heisst das schon wieder?
Heute merkt man im Gespräch mit dem Zofinger nicht sofort, dass er mehr Mühe hat mit dem Sprechen als andere. Einfache Unterhaltung gehe gut, sagt der Familienvater. Bei wesentlicheren Themen fehlten ihm aber viele Wörter.
Oder er muss nach Wörtern suchen. Im Gespräch sagt Kellerhals einmal, er sei «AHV-ist», weil ihm das Wort AHV-Rentner nicht in den Sinn kommt. Er verfüge nur noch über 60 Prozent der Wörter, die für einen Erwachsenen normal wären, sagt er.
«Man weiss, dass man es mal wusste»
Marianne Giger geht es genau gleich. Bei ihr hat das Schicksal 2004 zugeschlagen, zu Hause in Lostorf. Nach der Hirnblutung konnte sie nicht mehr sprechen, nicht mehr lesen, nicht mehr schreiben.
Vier Jahre lang musste sie bei einer Logopädin wieder sprechen lernen, erzählt Marianne Giger. Es sei eine schwierige Zeit gewesen: «Man weiss ja, dass man mal wusste, dass dieses grosse Ding ein Baum ist. Aber man weiss nicht mehr, wie das Ding heisst.»
Zu langsam für die Arbeitswelt
Marianne Giger ist dankbar, dass sie heute wieder gut reden kann. Auch wenn ihre Sprache wohl einfacher sei als früher, wie sie meint. Sie fand nach ihrer Hirnblutung auch wieder zurück in ihren Beruf. Dank «wunderbaren Kollegen und einem wunderbaren Chef» habe sie wieder als Floristin arbeiten können.
Bei Martin Kellerhals war eine Rückkehr in den Beruf nicht möglich. Er habe ein Reisebüro gehabt, erzählt der Zofinger. Die Kommunikation mit den Kunden habe nicht mehr geklappt. So lebte er bis zu seiner Pensionierung von der IV. Und weil sein Sehvermögen beeinträchtigt ist, darf er nach wie vor nicht Auto fahren.
5000 neue Sprachlose pro Jahr
So wie Marianne Giger und Martin Kellerhals geht es jährlich 5000 Personen in der Schweiz. Sie verlieren bei einer Hirnblutung, einem Unfall, einem Schlaganfall oder einem Hirntumor die Sprache. Sie werden zu Aphasikern, zu Sprachlosen (siehe Textbox).
In den letzten Jahren sind in der Schweiz diverse Aphasie-Chöre entstanden. Der erste solche Chor war der Aphasie-Chor Zentralschweiz. Marianne Giger aus Lostorf ist seit der Gründung 2008 dabei und Vizepräsidentin.
Erstaunlich: Sogar Aphasiker, die gar nicht mehr sprechen können, können singen. Weil beim Singen nicht die gleiche Hirnhälfte aktiv ist wie beim Sprechen, ist es möglich, dass Sprachlose Texte singen können. Und gehe der Text vergessen, werde halt gesummt, sagt Marianne Giger.
Der Chor als Selbsthilfegruppe
Für Martin Kellerhals und Marianne Giger ist der Aphasie-Chor mehr als nur Hobby. Das Reden mit Leuten, die das selbe Schicksal erlitten haben, sei sehr wichtig, sagt Kellerhals. Man könne sich gegenseitig aufbauen, motivieren.
Aber natürlich geht es auch ums Singen. Das Programm des Aphasie-Chors Zentralschweiz zieht sich quer durch Volkslieder, Kanons und Musikstücke aus der Schweiz und aus aller Welt.