Juso-Präsidentin Ronja Jansen stellt klar: Die Essenz ihrer Partei sei der Antikapitalismus. So steht es im neuen Abstimmungsbuch zur 99-Prozent-Initiative, das sie mitverfasst hat. Im Interview mit Radio SRF präzisiert sie: Heute würden im Wirtschaftssystem «Profite mehr zählen als Menschen». Eine kleine Minderheit streiche auf ihrem grossen Reichtum «leistungsfreie Gewinne» ein, kassiere also unverdient viel Geld, ohne dafür zu arbeiten, allein aufgrund ihres Kapitaleinkommens.
Lohn aus ehrlicher Arbeit für die grosse Zahl der Menschen – Gewinne aus Kapital für wenige, privilegierte Besitzende stehen sich in dieser Logik gegenüber; Büezerinnen gegen Bonzen oder 99 Prozent gegen 1 Prozent. Knallharte Grundsatzkritik am Kapitalismus ist das.
Aber hinter der antikapitalistischen Rhetorik steht ein gar nicht so radikales Anliegen, nämlich der bessere Ausgleich zwischen den Reichen und der breiten Bevölkerung. Solche staatliche Umverteilung betreibt der Staat zwar schon seit vielen Jahrzehnten. Trotzdem konzentriert sich – in der Schweiz und anderswo – sehr viel Reichtum im Besitz von nur ganz wenigen Menschen.
Verteilungsfragen interessieren gesellschaftlich wieder mehr. Gerade in der jungen Generation ist das ein grosses Thema.
Mit dieser zunehmenden Ungleichheit in vielen westlichen Ländern – allen voran den USA – hat die Debatte über die gerechte Verteilung an Brisanz gewonnen, stellt Florian Scheuer fest. Er ist Wirtschaftsprofessor an der Universität Zürich, forscht und publiziert viel zum Thema Besteuerung des Reichtums.
Ökonom Scheuer spürt, wie stark das Thema den Leuten unter den Nägeln brennt. «Fragen der Verteilung interessieren gesellschaftlich wieder mehr», sagt Scheuer, «Ich sehe das auch bei meinen eigenen Studierenden. Gerade in der jungen Generation ist das ein grosses Thema.»
Der Reichtum ist in der Schweiz sehr ungleich verteilt
Die Fakten sind eindrücklich: Zwar ist in der Schweiz das Einkommen der Menschen viel ausgeglichener verteilt als etwa in den Vereinigten Staaten, nicht zuletzt dank der hohen Löhne hierzulande. Das lässt sich anhand von Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigen.
Ganz anders jedoch verhält es sich mit dem Vermögen: Die Schweiz zählt zu den Ländern, in denen sich das Vermögen stark bei nur ganz wenigen Menschen konzentriert. Konkret: Das reichste Prozent besitzt in der Schweiz rund 40 Prozent des gesamten steuerbaren Vermögens. Zum Vergleich: In den USA, wo der Kontrast von Arm und Reich gross ist, kommen die Superreichen auf einen etwa ebenso hohen Anteil, wie Studien zeigen. Anders schaut es zum Beispiel in Frankreich aus.
Die Leute sind überrascht, wie gross die Ungleichheit in der Gesellschaft tatsächlich ist.
In vielen europäischen Ländern ist der Reichtum – gemessen am Vermögen – deutlich gleichmässiger verteilt. Bemerkenswert ist auch: Die Ungleichheit der Vermögensverteilung wird gewöhnlich unterschätzt. «Die Leute sind überrascht, wenn sie erfahren, wie gross die Ungleichheit in der Gesellschaft tatsächlich ist» , sagt Scheuer. Das heisst: In Wirklichkeit besitzen in der Schweiz die Reichen und Superreichen ein weit grösseres Stück vom Kuchen, als viele Menschen meinen.
Ist die Initiative wirklich wirksam und nötig?
Die Frage ist nun: Soll – und kann – die Politik die Ungleichheit effektiv verringern mit der 99-Prozent-Initiative? Diese will die Kapitaleinkommen der Topverdienerinnen und -verdiener ab einem gewissen Betrag markant höher besteuern. Dadurch würden jährlich mehrere Milliarden zusätzliches Geld für die soziale Wohlfahrt zur Verfügung stehen – oder für Steuersenkungen zugunsten der tiefen und mittleren Einkommen, sagen die Befürworter bei den Linken und Grünen.
Die bürgerlichen Gegner bestreiten diese angeblich positive Wirkung. Sie ziehen zudem in Zweifel, dass es überhaupt Handlungsbedarf gibt und der Reichtum stärker besteuert werden muss als heute schon. Ein wichtiges Gegenargument ist auch, dass der Fiskus in der Schweiz bereits Privatvermögen ab einer bestimmten Höhe anzapft: Tatsächlich bringt die geltende Vermögenssteuer den Kantonen jährlich rund sieben Milliarden Franken ein. Das entspricht rund einem Prozent der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung (BIP), ist also nicht wenig.
Viele Nachfolgeregelungen würden scheitern, wenn diese Initiative angenommen würde.
Bei den Verbänden stehen sich die Ansichten ebenfalls diametral gegenüber: Während der Schweizerische Gewerkschaftsbund die Initiative unterstützt, treten die Wirtschaftsverbände dagegen an. So warnt Economiesuisse, der Dachverband der Schweizer Wirtschaft, eindringlich: Die stärkere Besteuerung der Kapitaleinkommen schade dem Mittelstand. Sie bringe auch die kleinen und mittleren Firmen (KMU) in Gefahr: Beispielsweise, wenn es um Nachfolgelösungen gehe. Wenn also der Besitz und die Führung eines KMU von der alten zur jungen Generation wechsle, dann komme es zu Schwierigkeiten. Man müsse gar mit einem Kahlschlag bei den KMU rechnen, sagt Frank Marty von Economiesuisse. «Viele Nachfolgeregelungen würden scheitern, wenn diese Initiative angenommen würde.»
Keine Abschaffung des Kapitalismus
Mitinitiantin Ronja Jansen hält das für Panikmache. Die Gegner würden die Gefährdung der sympathischen Kleinbetriebe lediglich als Argument vorschieben, um die Initiative schlecht zu machen. Doch: «Diese Initiative zielt auf Superreiche, auf Menschen, die jährlich mehr als 100'000 Franken Kapitaleinkommen einstreichen.» Die Juso-Präsidentin hegt offensichtlich wenig Sympathien für die Superreichen.
Mit der Initiative soll der Staat die Besitzenden in der Schweiz deutlich stärker zur Kasse bitten als bislang. Gemessen an den antikapitalistischen Fernzielen der Juso erscheint das als gemässigtes Anliegen. Harmlos wären die vorgeschlagenen Eingriffe ins Steuersystem aber keineswegs.