Finanzvorlagen sind selten attraktiv. Eine inhaltliche Argumentation, ob pro oder kontra, ist oft technisch und daher eher schwierig. Die Änderung des Verrechnungssteuergesetzes macht da keine Ausnahme.
Inhaltlich dürften viele Bürgerinnen und Bürger nicht genau verstanden haben, worum es bei der Vorlage gegangen ist. Umso wichtiger war für die Meinungsbildung, mit welchen Schlagworten Befürworter und Gegnerinnen zu überzeugen suchten. Bei der Abstimmung ging es weniger um steuertechnische Fragen als um Werthaltungen.
Abstimmung um die Gerechtigkeit
Inzwischen steht fest, das Stimmvolk ist – wenn auch sehr knapp – der Argumentation des überparteilichen Komitees aus SP, Gewerkschaften und Grünen gefolgt, das die Revision bekämpft hat. Den linken Parteien und Organisationen, allen voran der SP, ist es erneut gelungen, eine Steuervorlage zu bodigen. Das gelang, indem sie die Abstimmung zu einer Frage der Gerechtigkeit machten.
Die Gegner argumentierten klassenkämpferisch: Reiche, Konzerne und Oligarchen würden von der Teilabschaffung der Steuer profitieren, während Normalverdiener nichts von der Revision hätten. Diese Argumentation verfing und brachte den Linken nach den Siegen bei der Stempelsteuer-Vorlage, bei der Abstimmung über höhere Kinderabzüge für Eltern sowie der Unternehmenssteuerreform III den vierten Erfolg bei einer Steuerabstimmung in Folge.
«Gut fürs Volk» reicht nicht mehr
Auf der anderen Seite argumentierten die unterlegenen Befürworter der Vorlage wirtschaftlich und strichen heraus, die Reform bringe neue Arbeitsplätze und nutze der Gesamtwirtschaft. Das sind Argumente, mit denen bis vor wenigen Jahren jede Abstimmung gewonnen wurde.
Den Wirtschaftsverbänden und bürgerlichen Parteien muss diese Niederlage deshalb zu denken geben. Ihr in vielen Abstimmungen erfolgreich eingesetztes Argument, dass alles, was gut für die Wirtschaft ist, auch positiv fürs Volk ist, sticht nicht mehr.
Eine Abstimmung mit längerfristigen Folgen
Das hat Folgen über den heutigen Tag hinaus. Denn mit dem neuerlichen Sieg sind die Sozialdemokraten zu einer Vetomacht bei Steuerfragen geworden. Der klassenkämpferische Auftritt und die damit verbundene Skepsis gegenüber den Wirtschaftseliten überzeugt eine Mehrheit der Stimmberechtigten.
Für künftige Steuervorlagen bringt das die Partei in eine komfortable Position. Es sollte ihr leichter gelingen, bei Steuerfragen ihre Anliegen frühzeitig durchzusetzen. Nach dem heutigen Tag muss sich die bürgerliche Seite gut überlegen, ob sie auch in Zukunft gegen die Opposition der SP Finanz- und Steuervorlagen umsetzen will.
Eine Gelegenheit für solche Überlegungen kommt schon bald. Nächste Woche wird im Parlament darüber debattiert, wie die OECD-Mindeststeuer in der Schweiz umgesetzt wird und wie anfallende Steuergelder verwendet werden sollen. Links und Rechts haben diesbezüglich unterschiedliche Vorstellungen.