Der riesige Thwaites-Gletscher ragt von der Antarktis als sogenanntes Schelfeis weit ins Meer hinaus. Forschende wollten herausfinden, was unten, wo Gletscher und Meerwasser aufeinandertreffen, passiert. Sie haben von oben her gebohrt – ein 600 Meter tiefes Loch durchs Eis, bis unten ins Meer. Dort haben sie mit Sonden Messungen vorgenommen.
Es sei ein ambitioniertes, sehr wichtiges Forschungsprojekt, sagt Johannes Sutter. Er ist Spezialist für die Eismodellierung der Antarktis und arbeitet an der Universität Bern. Am Projekt war er nicht beteiligt. «Das Interessante an der Studie ist, dass wir vorher noch nie direkte Messdaten aus dieser Gegend hatten.»
Eis schmilzt langsamer – doch Gletscher zieht sich zurück
Jetzt aber weiss man, wie das Wasser da zirkuliert, wie hoch der Salzgehalt ist und vor allem, wie schnell das Eisschelf des Thwaites-Gletschers von unten her schmilzt. Es schmilzt weniger stark als angenommen – wenige Meter pro Jahr, statt 10 bis 100 Meter wie angenommen.
Gute Nachrichten, könnte man meinen. Aber so einfach ist es nicht. Gleichzeitig zieht sich der Gletscher nämlich vom Meer her gesehen sehr schnell um ein bis zwei Kilometer pro Jahr zurück. «Dieser schnelle Rückzug des Thwaites-Gletschers passiert, obwohl die Schmelzraten unterhalb des Eisschelfs viel geringer sind als vorher angenommen. Es gibt bisher nicht berücksichtigte Prozesse, die zu diesem schnellen Rückzug führen», sagt Sutter.
Oder anders gesagt: Die bisherigen Modelle über den Tauprozess in der Antarktis sind ungenau. Die Klimamodelle werden laufend verbessert und damit verändern sich auch die Prognosen des Weltklimarates zum Anstieg des Meeresspiegels. Lange rechnete man zu zurückhaltend. Jetzt haben die Forscher die Prognose auf etwa plus 80 Zentimeter bis im Jahr 2100 angehoben.
Der Meeresspiegel könnte aber auch deutlich stärker steigen, sagt Sutter. Je weiter der Thwaites-Gletscher vom Meer in Richtung Landmasse schrumpft, umso massiver werden die Eisstücke, die abbrechen.
Der ganze Gletscher droht vom wärmeren Meerwasser unterspült und von unten her abgeschmolzen zu werden. «Wenn das passiert, dann würde der Meeresspiegel auf lange Sicht um einen halben Meter steigen und im Nachgang die gesamte Westantarktis erfassen. Das würde 3 bis 4 Meter Meeresanstieg bedeuten.»
Wenn der Kipppunkt überschritten ist, dann wird es sehr schwer bis unmöglich, das aufzuhalten.
Dazu kommt das Schmelzwasser von unseren Gletschern, von Grönland und der Arktis. Zusätzlich dehnt sich das Meerwasser auch noch aus, weil es wärmer wird. Das ergibt insgesamt sehr ungemütliche Aussichten. Sutter hofft denn auch, dass die Staaten auf diese Gefahr reagieren und den Klimaschutz deutlich schneller vorantreiben als bisher.
Informationen zum Rückzug des Gletschers fehlen
Noch aber ist vieles unverstanden, was im antarktischen Eis ganz genau passiert. So sei nicht klar, wie weit der Prozess schon fortgeschritten ist.
Klar ist für Sutter: «Wenn der Kipppunkt überschritten ist und der Thwaites-Gletscher in einen Zustand eines irreversiblen Rückzugs eintritt, dann wird es sehr schwer bis unmöglich, das aufzuhalten.» Dann könnte man bloss noch zuschauen, wie der Thwaites-Gletscher und das ganze Westantarktis-Eis verschwänden.
New York, Amsterdam und Venedig werden nicht in den nächsten Jahren und Jahrzehnten im Meer verschwinden. Aber in dieser Zeit wird sich entscheiden, ob es diese Städte auch in zwei-, drei- oder vierhundert Jahren noch gibt.