Es ist zurzeit ruhig in Brüssel, wenn es um die Beziehung zwischen der Schweiz und der Europäischen Union geht. Wegen der Corona-Pandemie und wegen der Verhandlungen mit Grossbritannien über das zukünftige Verhältnis gibt es wichtigere Themen. Dazu kommt, dass sich die EU wegen der Abstimmung zur Initiative gegen die Personenfreizügigkeit am 27. September 2020 mit Forderungen an die Schweiz zurückhält.
Kaum noch Geduld
Die derzeitige Ruhe in Brüssel sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU von ihrer Position bezüglich des Rahmenabkommens nicht abgewichen ist. Das Rahmenabkommen liegt seit Ende 2018 zur Unterschrift bereit. Wegen der Konsultationen des Bundesrates mit Interessensgruppen sowie wegen der SVP-Abstimmung über die sogenannte Begrenzungsinitiative schiebt der Bundesrat weitere Gespräche mit der EU über das zukünftige Verhältnis hinaus.
Dies sei ein Problem, analysiert der in Brüssel lebende Westschweizer Anwalt und Berater von Schweizer Firmen, Jean Russotto. Das Schweiz-Dossier drohe zu verstauben.
Das Rahmenabkommen, das den weiteren bilateralen Weg zwischen der Schweiz und der EU stabilisieren und erweitern soll, sorgt für Unmut auf beiden Seiten. Obwohl das Rahmen- respektive institutionelle Abkommen fertig verhandelt wurde, verlangt der Bundesrat von der EU noch Präzisierungen bei umstrittenen Punkten wie den staatlichen Beihilfen, dem Lohnschutz und der Unionsbürgerrichtlinie.
Einer Einladung des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker im Juni 2019 zur Klärung der noch offenen Punkte folgte der Bundesrat nicht. Zu heikel war das EU-Dossier so kurz vor den Eidgenössischen Wahlen im Herbst 2019. Obwohl es im Rahmen des WEF dieses Jahres in Davos ein erstes persönliches Kennenlernen zwischen den Mitgliedern des Bundesrates und der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gab, gibt es weiterhin keine Fortschritte beim Rahmenabkommen.
Die wirtschaftliche Stärke der Schweiz
Auch wenn die politischen Positionen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union zurzeit wohl so weit auseinanderliegen wie schon lang nicht mehr, kann die Schweiz ihre wirtschaftliche Stärke in dieser schwierigen Situation nutzen. Von den Wirtschaftsbeziehungen profitiert nämlich nicht nur die Schweiz, in dem sie einen privilegierten Zugang zum grössten Wirtschaftsmarkt der Welt hat, sondern auch die EU.
Es geht nicht nur um das Volumen, das gehandelt wird, sondern auch um die Qualität dieses Austausches.
Die Schweiz gehöre zu den wichtigsten Handelspartnern der EU, sagt Jean Russotto. «Es geht aber nicht nur um das Volumen, das gehandelt wird, sondern auch um die Qualität dieses Austausches. Da geht es auch um schwierige Fragen, welche beispielsweise die Landwirtschaft betreffen, aber auch Spitzentechnologien oder die Forschung.»
Es handelt sich dabei um Fragen und Themen, die nicht allein über die Wirtschaftsbeziehungen geklärt, sondern über die unterschiedlichen bilateralen Verträge geregelt werden. Verträge, die teilweise wegen Regelanpassungen der EU nicht mehr auf dem neusten Stand sind und angepasst und ergänzt werden müssen. Aus der Perspektive der EU geht dies allerdings nur mittels des Rahmenabkommens.
Fortschritte werden gefordert
Die Europäische Union wird sich mit ihren Forderungen an die Schweiz bis zur Abstimmung Ende September zurückhalten. Die EU respektiere die demokratischen Prozesse in der Schweiz, sagt der Europaabgeordnete Andreas Schwab. Der Vorsitzende der Schweiz-Delegation im Europäischen Parlament macht aber deutlich, dass es nach der Abstimmung Fortschritte brauche.
In der Beziehung zwischen der Schweiz und der Europäischen Union beginnt nach der Abstimmung zur Initiative gegen die Personenfreizügigkeit ein neues Kapitel.
Sollte die Schweizer Stimmbevölkerung der Initiative zustimmen, wird das Rahmenabkommen wohl kaum mehr ein Thema sein. Der Bundesrat hätte den Auftrag, innerhalb eines Jahres das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU neu zu verhandeln. Falls die Bevölkerung die Initiative ablehnt, sollten die Gespräche mit Brüssel wohl so schnell wie möglich intensiviert werden.