Marie (Name geändert) ist eine Wissenschaftlerin aus dem EU-Raum. Seit drei Jahren lebt sie in der Schweiz. Für sie und ihren Mann sei damit «ein Traum in Erfüllung gegangen», sagt sie gegenüber dem Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS).
Doch vor knapp einem Jahr dachte sie, dass dieser Traum ein jähes Ende gefunden hat. Ein Brief mit dem Logo des Staatssekretariats für Migration erreichte sie, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass ihre Aufenthaltsbewilligung widerrufen wurde.
«Im Rahmen der Verhandlungen über die Bilateralen III zwischen der Schweiz und der Europäischen Union hat die Landesregierung beschlossen, die Schutzklausel anzuwenden. (…) Wir teilen Ihnen daher mit, dass Ihre Aufenthaltsbewilligung am 31. Dezember 2024 widerrufen wird», stand dort auf Deutsch und Englisch geschrieben.
«Es wirkte offiziell»
Der Brief war an ihre Geschäftsadresse adressiert. «Es stand nichts darin, das mich stutzen liess, er sah offiziell aus», erinnert sich Marie. Bereits dachte die Wissenschaftlerin, dass sie nun ihre Kündigung einreichen müsse, da sie keine Aufenthaltsgenehmigung mehr habe. Erst als sie mit ihrem Vorgesetzten sprach, wurde ihr klar, dass das Schreiben eine Fälschung war. Die Referenznummer war falsch, der QR-Code führte nirgendwo hin, und die englische Übersetzung wies Fehler auf.
Die Forscherin war erleichtert – aber auch erschüttert: «Das war das erste Mal, dass ich mich hier nicht willkommen fühlte. Ich lebe seit fast drei Jahren in der Schweiz, und noch nie hat jemand mich dazu gebracht, mich so zu fühlen. Es war ein Schock. Ich kann die Gefühle nach dem Lesen des Briefes nicht vergessen.»
Mindestens 20 Fälle
Marie ist nicht die Einzige, die solche Post erhielt. Das SEM schrieb auf Anfrage, dass es im April und Mai 2024 zu mindestens 20 solcher Fälle gekommen sei. «Zur gleichen Zeit gingen bei den kantonalen Behörden zudem weitere Meldungen über solche Briefe ein. Die genaue Anzahl ist uns nicht bekannt.»
Haut ab, bevor 2025 die Unruhen ausbrechen.
Das SEM meldete die Vorfälle noch im Mai der Bundesanwaltschaft. Diese leitete eine Untersuchung wegen Amtsanmassung ein. Die Täterschaft konnte jedoch nicht identifiziert werden, die Ermittlungen wurden im September eingestellt – just als Marie neue Post erhielt.
Rassistisches Pamphlet
Dieses Mal war die Botschaft direkter. «Sie haben unser schönes Land in eine von Ausländern verseuchte, zu dicht besiedelte, zu teure und kulturell entfremdete Bruchbude verwandelt», hiess es im zweiten Brief. Er endete mit den Worten: «Haut ab, bevor 2025 die Unruhen ausbrechen.»
«Das ist sehr persönlich und auch ungerecht. Diese Menschen kennen mich nicht. Sie haben irgendwo meine Informationen aufgeschnappt und schicken mir diese Briefe», sagt Marie. Die Wissenschaftlerin ist keine Person des öffentlichen Lebens und weiss nicht, warum gerade sie ins Visier genommen wurde.
Was Marie betrifft, so haben die Briefe zwar ihre Spuren hinterlassen, nicht aber Maries Absichten geändert. «Ich bin in die Schweiz gezogen, weil ich das Land liebe. Ich gehe gerne wandern und schwimmen. Ich habe das Gefühl, dass meine Werte mit diesem Land übereinstimmen. Diese Briefe waren unangenehm, aber sie werden mich nicht dazu bringen, wegzugehen.»