N. ist als kleiner Bub aus Afghanistan geflohen. Am Ende einer sehr langen und anstrengenden Reise wurde er im Tessin aufgenommen. Heute lebt er in einer Unterkunft für unbegleitete Minderjährige in Paradiso bei Lugano.
Vier Prozent aller Personen, die aus ihren Ländern fliehen und in der Schweiz Zuflucht suchen, landen im Tessin. Dies geht aus der Schlüsselzuweisung zwischen den Kantonen hervor. Im Moment sind es 900 Menschen, die im Kanton untergebracht werden müssen, viele von ihnen unbegleitete Minderjährige. Genug Unterkünfte für sie zu finden, ist eine Riesenherausforderung. Oft gibt es Widerstand in der Bevölkerung oder bei den Gemeindebehörden. Die Folge: Einige Zentren sind überfüllt.
Das gilt vor allem für die Einrichtung in Paradiso, in der Jugendliche bis 18 Jahre untergebracht sind. Sie hätte schon vor zehn Jahren geschlossen werden sollen, aber sie ist immer noch da, mit ihren sechs Stockwerken und den Balkonen, die von Holzstangen getragen werden. Gegenwärtig leben dort 96 Jugendliche, einige schon seit Jahren, in Gemeinschaftsräumen und mit niedrigstem Komfort.
«Manchmal finde ich, dass wir kleine Wunder vollbringen», sagt Debora Banchini Fersini, die beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) die Sektion Sottoceneri leitet. Diese ist im Tessin für die Aufnahme von Asylsuchenden zuständig. Verpflegung, Unterkunft, Integrations- und Sprachkurse – all dies fällt unter die Verantwortung des SRK.
Spricht man mit Jugendlichen in der Unterkunft von Paradiso, kommen Unbehagen und Unzufriedenheit zum Ausdruck. «Ich weiss nicht, warum die Betreuungskräfte uns nicht helfen. Es gibt viel Bürokratie, sie müssen viele Aufgaben erledigen, und sie kommen nicht in unsere Zimmer», sagt ein Jugendlicher. «Sie verstehen nicht, was in unseren Köpfen vorgeht, dass wir Probleme haben … Wir sind viele, Betreuungspersonen gibt es nur wenige, vielleicht ist das das Problem.»
Das bestätigen ehemalige Angestellte. «Der Arbeitsaufwand war zu gross für die Betreuungspersonen», sagt eine von ihnen. «Ich bin gegangen, weil ich nicht genug Mittel hatte, um den Jugendlichen zu helfen. Und nach und nach gingen alle anderen auch.» In Paradiso ist die Fluktuation besonders hoch. Um die Abgänge von Betreuungskräften auszugleichen, werden neue aus Italien angeworben.
Widerstand in der Bevölkerung
Zentren wie in Paradiso reichen seit Jahren nicht mehr aus. Der Kanton ist ständig auf der Suche nach alternativen Einrichtungen wie Hotels und Pensionen. In Cresciano hätte eine Jugendherberge in ein Zentrum für unbegleitete Minderjährige umgewandelt werden sollen. Doch die lokale Bevölkerung wehrte sich dagegen. Das Vorhaben ist bis auf Weiteres gestoppt.
Auch bei den Bemühungen, den Jugendlichen zum Sprung in die Arbeitswelt zu verhelfen, hapert es. Die Asylsuchenden werden von sogenannten Job-Coaches begleitet. Auch sie sind personell unterbesetzt und haben fast immer zu viele Fälle zu bearbeiten. Wie der Leiter des kantonalen Amtes für Asylsuchende und Flüchtlinge, Renzo Zanini, einräumt, ist es im Tessin für eine Person aus dem Asylbereich schwieriger, eine Arbeit zu finden als in vielen anderen Kantonen der Schweiz.