Filippo Grandi malte unlängst vor dem UNO-Sicherheitsrat ein düsteres Bild: Fast alle Konfliktparteien hätten aufgehört, die Grundregeln des Kriegs zu respektieren, sagte der Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge. Zivilpersonen würden getötet, sexuelle Gewalt werde als Kriegswaffe eingesetzt.
Grundlage des humanitären Völkerrechts sind die vier Genfer Konventionen von 1949. Alle Staaten haben sie ratifiziert, sie sind somit verantwortlich für dessen Einhaltung. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat das Mandat, auf die korrekte Anwendung zu achten.
Zu den wichtigsten Bestimmungen zählt, dass Kriegsparteien die Zivilbevölkerung schützen müssen und nur militärische Ziele angreifen dürfen. Mit Blick auf den Gazastreifen sagt Christopher Lockyear, Generalsekretär von Médecins Sans Frontières: «Es steht für mich ausser Frage, dass das humanitäre Völkerrecht vorsätzlich missachtet wird.»
Hunger werde als Waffe eingesetzt. Und mit inzwischen über 38’000 getöteten Menschen sei das Prinzip der Verhältnismässigkeit verletzt. Lockyear kritisierte zudem, dass Israel die Bevölkerung im Gazastreifen in vielen Fällen zu kurzfristig vor Angriffen gewarnt hat.
Eine Frage der Wahrnehmung
Wird das humanitäre Völkerrecht also heute weniger respektiert als noch vor einigen Jahren? Das sei kaum zu beantworten, sagt Anne Quintin, Völkerrechtsexpertin beim IKRK. Die Medien berichteten oft über Verstösse, jedoch kaum, wenn das humanitäre Völkerrecht respektiert werde. Und wenn heute Ereignisse in sozialen Netzwerken praktisch in Echtzeit verfolgt werden können, entstehe der Eindruck, dass es sehr viel mehr Verstösse gebe als vor Jahren. Dabei habe die Öffentlichkeit früher schlicht weniger darüber erfahren.
In vielen Fällen aber werde das humanitäre Völkerrecht täglich respektiert, sagt Quintin. Jedes Mal, wenn eine Kriegspartei auf eine militärische Aktion verzichte, weil zu viele Zivilpersonen betroffen wären. Oder jedes Mal, wenn das IKRK Gefangene besuchen, mit den Kriegsparteien sprechen oder mit weiteren Organisationen humanitäre Hilfe leisten könne.
Das wirft die Frage auf, welche Interessen Kriegsparteien haben, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Andrew Clapham, Professor für Völkerrecht am Graduate Institute in Genf, sagt, es helfe den Kriegsparteien dabei, Fehlverhalten zu vermeiden und nicht als Kriegsverbrecher dazustehen. Wenn Politiker wie der russische Präsident Wladimir Putin oder der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu als Kriegsverbrecher taxiert würden, leiste man Beihilfe zu einem Kriegsverbrechen, falls man ihr Tun unterstütze, sagt Clapham.
Für eine solche Zusammenarbeit könnten Staaten zur Rechenschaft gezogen werden. Gerichte könnten zum Schluss kommen, es bestehe die Gefahr, dass exportierte Waffen für ein Kriegsverbrechen verwendet werden. So geschehen kürzlich in den Niederlanden, wo es um den Verkauf von Teilen für F-35-Kampfflugzeuge an Israel ging.
Ein anderes Beispiel: Ende Juni verkündete die private norwegische Pensionskasse KLP, die rund 90 Milliarden Dollar verwaltet, sie werde nicht mehr in den US-Konzern Caterpillar investieren. Es bestehe ein Risiko, dass das Material des Konzerns im Gazastreifen und im Westjordanland zu Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen beitrage.