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Umstrittene Heimschulen: Fakten, Vorwürfe und Einschätzungen
Aus Regionaljournal Graubünden vom 26.06.2019. Bild: Keystone
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Eltern schlagen Alarm Wenn das Recht auf Volksschule nicht für alle gilt

Flüchtlingseltern kritisieren die internen Schulen in Bündner Asylzentren und schlagen Alarm. Das Migrationsamt weist die Vorwürfe zurück.

  • Seit Jahrzehnten betreibt der Kanton Graubünden eigene Schulen in den Asylzentren.
  • Türkische Eltern kritisieren die Qualität des Unterrichts. Sie fordern, dass ihre Kinder die normale Volksschule besuchen können.
  • Das Migrationsamt weist die Vorwürfe zurück. Das Schulmodell habe sich bewährt.

Gleich die ganze Familie ist ins Radiostudio gekommen. Wortführerin ist die 40-jährige Perihan. Die Mutter bittet, nur ihren Vornamen zu nennen. Sie befürchte Repressionen aus ihrer alten Heimat. Die Familie mit zwei Töchtern kommt aus der Türkei. Perihan unterrichtete dort Physik an der Oberstufe.

Die Familie flüchtete letztes Jahr. Auslöser war die mehrmalige Inhaftierung des Vaters wegen seiner Nähe zur Gülen-Bewegung. Vor sieben Monaten fand die Familie Asyl in der Schweiz und landete in Graubünden.

«Die Lehrer unterrichten nicht»

Im Gegensatz zu anderen Kantonen wohnen im Bergkanton alle Asylsuchenden in Heimen. Schulpflichtige Kinder besuchen dort einen internen Unterricht. Die Klassen sind klein, Primarschüler von der ersten bis zur sechsten Klasse werden zusammen unterrichtet.

Wichtigstes Ziel laut offiziellem Schulkonzept: Die Kinder sollen individuell gefördert und so auf die reguläre Volksschule vorbereitet werden – mit viel Deutsch und einer Einführung in das hiesige Schulsystem.

Doch die Mutter und Oberstufenlehrerin zweifelt stark an der Qualität der Schule: «Die Lehrer unterrichten nicht. Sie geben den Schülern Deutsch- und Mathematikbücher und lassen sie dann selbstständig lernen». Kurz, ihre Tochter würde mit den Büchern alleine gelassen. Perihan hat beobachtet, dass andere Kinder den internen Unterricht mehr als zwei Jahre besuchten, ohne ein Volksschulniveau zu erreichen.

«Wir haben sehr gute Erfahrungen gemacht»

Eine ganz andere Sicht der Dinge hat Marcel Suter, Leiter des Bündner Migrationsamts. Kompetente Lehrpersonen würden die Kinder individuell fördern, er weise den Vorwurf der Mutter zurück. Die Rückmeldungen der Gemeinden, in welchen Kinder eingeschult wurden, seien durchwegs positiv.

Die Tradition der Mini-Schulen an Bündner Asylzentren ist alt. Vor Jahrzehnten kam der Kanton so den Gemeinden entgegen, die ein Asylzentrum im Dorf akzeptieren mussten – aber nicht noch zusätzlich alle Flüchtlingskinder in ihrer Schule wollten. Heute stehe die Förderung der Flüchtlingskinder im Vordergrund, sagt Suter.

Diese Förderung benötige je nachdem Zeit. Jene, die länger an den Heimschulen seien - manche sogar vier Jahre - müssten zuerst lesen und schreiben lernen und würden nicht genügend Deutsch für die Volksschule sprechen. «Zweitens sind manche Kinder traumatisiert, was zu Schwankungen bei der Leistungsfähigkeit der Kinder führt», erklärt der Leiter des Migrationsamts.

Kontakt nur mit Flüchtlingskindern

Traumatisierte Kinder, die Mühe mit Deutsch haben, seien ein problematisches Umfeld für sein Kind, sagt ein weiterer Vater. Davut ist 36 und Bauingenieur aus der Türkei. Seit einem Jahr besucht sein sechsjähriger Sohn den Kindergarten in einem anderen Transitzentrum.

Die Lehrpersonen seien zwar gut und würden professionell arbeiten. Doch statt in der Schweiz anzukommen, habe sein Kind nur Kontakt mit Flüchtlingskindern. Sein sechsjähriger Bub leide darunter: «In diesem Umfeld erhalten meine Kinder keine gute Schulbildung», lautet die Einschätzung des Vaters.

Übertritt ja – bloss wann

Unter den Eltern kursieren verschiedene Informationen, wann ein Übertritt an die Volksschule möglich ist. Davut erhielt im Heim die Auskunft, dass es für einen Übertritt zuerst einen positiven Asylentscheid brauche – was Jahre dauern kann.

Ein anderer Vater erfuhr im Elterngespräch, dass ein Übertritt frühestens nach zwei Jahren an der Heimschule geprüft würde.

Die offizielle Antwort des Migrationsamts lautet nochmals anders. Schriftlich heisst es zuerst, ein Übertritt würde frühestens nach eineinhalb Jahren geprüft. Im Gespräch erklärt Marcel Suter, ein Wechsel sei auch früher möglich: «Wenn ein Kind nach einem halben Jahr bereit ist, kann es an die Volksschule wechseln».

Ob die Voraussetzungen erfüllt seien, würden mehrere Fachpersonen miteinander beurteilen. Der Stand des Asylverfahrens spiele keine Rolle, unterstreicht Marcel Suter. Auch hier steht also Aussage gegen Aussage.

Wie lange Kinder im Schnitt die Heimschule besuchen, darüber führt der Kanton keine Statistik. Was auffällt: Knapp 90 Kinder besuchen eine der asylinternen Schulen, mehr als die Hälfte länger als zwei Jahre. Aktuell haben es nur neun Kinder an eine öffentliche Schule geschafft.

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