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Gedankenexperiment Was wäre, wenn niemand mehr lügen könnte?

Lügen sind die Schmiermittel der Gesellschaft. Ohne sie knirscht es. Wo am meisten? Ein Gedankenexperiment in acht Kapiteln.

Der Mensch lügt. Er tut so, als ginge es ihm gut, wenn es nicht so ist. Er kennt ein Lächeln, das mehr verbirgt, als es zeigt. Doch was, wenn die Fähigkeit zu lügen plötzlich ausfiele? Wenn nur noch die Wahrheit auf den Lippen liegt? Klingt reizvoll – oder nach Horror? Ein Versuch, das Undenkbare zu denken.

Die SRF-Rubrik Was wäre, wenn ...?

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In der multimedialen Rubrik «Was wäre, wenn …?» leuchtet SRF Zukunftsszenarien aus. In einem Gedankenexperiment wird eine radikale oder unerwartete Entwicklung durchgespielt. Dieser Ansatz soll helfen, besser zu verstehen, was in der Zukunft geschehen könnte. SRF begleitet das jeweilige Thema rund 24 Stunden online, am Radio und im TV. Dabei werden Zuschauerinnen und User eingeladen, sich aktiv an der Diskussion zu beteiligen.

Alle Artikel, Expertenchats und Videos der Rubrik «Was wäre, wenn …?» finden Sie hier.

Haben Sie weitere Ideen für Zukunftsszenarien, die SRF beleuchten soll? Schicken Sie uns gerne Ihren Input an communities@srf.ch.

Kapitel 1: Der Tag, an dem niemand mehr lügen konnte 

Es beginnt harmlos. Morgenkaffee, ein «Geht’s Ihnen gut?». Die Kellnerin: «Nein, ich bin müde und verdiene hier zu wenig.» Im Büro kein «Schön, dich zu sehen», wenn’s eigentlich reicht, dich zu sehen.

Ein Pinocchio schlüpft aus dem Ei.
Legende: Wer war zuerst: die Wahrheit oder Pinocchios Lügen? Eine Welt ohne Täuschung wäre ein Dilemma für sich. Getty Images / antonioiacobelli

Eine Kollegin fragt nach Feierabenddrinks. Antwort: «Nach Feierabend möchte ich dich lieber nicht mehr sehen.» Überhaupt, keine tröstenden Worte, wenn jemand scheitert, keine gespielte Begeisterung an Bewerbungsgesprächen – nur noch «Ich brauch' den Job halt». 

Kapitel 2: Die Politik verstummt

In der lügenfreien Welt wird es ruhig. Wahlkampf? Überflüssig. Keine strategischen Floskeln mehr in Staatsverhandlungen, kein diplomatisches Schachspiel. Politiker sagen in Talkshows: «Wir werden nicht alles umsetzen können, was wir versprechen.» Die Moderatorin nickt: «Das weiss ich.»

Doch wenn es keine grossen Versprechen mehr gibt – wonach wählen wir dann? Nach Bauchgefühl? Michael Kurschilgen, Verhaltensökonom an der Fernuni Schweiz in Brig, sagt: «Dann spielt Vertrauen in das Urteilsvermögen des Politikers, der Politikerin eine viel grössere Rolle als Vertrauen in die Bereitschaft, Wahlversprechen eins zu eins umzusetzen.» Denn die, so Kurschlingen, werden ohnehin obsolet, wenn sich die Lage ändert.

Kapitel 3: Kant, wir können nicht 


Der Philosoph Immanuel Kant hätte es geliebt. «Kant hat das Lügen kategorisch abgelehnt – aus zwei Gründen», sagt die Philosophin Barbara Bleisch. «Erstens könnte man niemandem vertrauen, wenn alle lügen würden. Und wenn man erstmal Ausnahmen macht, unterläuft das die bindende Kraft der Moral.»

Zwei junge Frauen schleichen aus dem Fenster.
Legende: Lügen als Rebellion gegen Regeln: Aus dem Fenster, rein in die Freiheit – mit einer Lüge im Gepäck. Getty Images / Klaus Vedfelt

Der zweite Grund: Wir überschätzen oft die Folgen einer Notlüge. Vielleicht macht sie alles nur noch schlimmer. Also, die Wahrheit, immer. Klingt ehrenwert. Doch Kant – we can’t. Offensichtlich.

Kapitel 4: Lügen als soziale Dienstleistung

Die Psychologie kann Lügen nicht exakt zählen, schätzt aber: Zwei pro Tag sind es mindestens. Nicht alle sind verwerflich. Es gibt egoistische Lügen (die einem selbst nützen) und prosozialen Lügen (die den Frieden wahren). Vier von zehn gehören zur letzteren Kategorie, sagt Sozialpsychologin Fanny Lalot. Ohne sie? Ein Minenfeld.

Sie sieht eine lügenfreie Welt als zweischneidiges Schwert: «Die Unfähigkeit zu lügen würde das Ende von Täuschung und egoistischen Strategien bedeuten, aber auch eine Ära der schonungslosen Ehrlichkeit, in der keine Filter mehr existieren.» Eine Ära ohne Lügen wäre klarer, vielleicht gerechter. Aber auch: das Ende jeder Überraschungsparty. Und tschüss, Weihnachtsmann.

Kapitel 5: Liebe ohne Lügen – geht das gut?

Beziehungen sind voller kleiner Unwahrheiten. «Lügen können die Liebe genauso schützen wie zerstören», sagt die Paartherapeutin Esther Perel. Aber was passiert, wenn Romantik ohne Beschönigung auskommen muss – ein Desaster? Wer seinem Partner ungeschönt mitteilt, dass man die Gespräche beim Abendessen langweilig findet oder der Sex besser war, bevor man zusammengezogen ist, riskiert mehr als nur einen Streit.

Ist Vertrauen ohne die Möglichkeit zur Lüge überhaupt noch Vertrauen?  
«Ehrlichkeit ohne Freundlichkeit ist Grausamkeit», warnt die Paartherapeutin Esther Perel – und erinnert daran, dass nicht jede Wahrheit hilfreich ist. Vielleicht ist es genau diese Ambivalenz, die Liebe lebendig hält. 

Kapitel 6: Das perfekte System für Diktatoren

Weniger Lügen bedeuten mehr Ehrlichkeit, bessere Entscheidungen, ein faireres System – könnte man meinen. Aber was ist mit Orten, an denen Wahrheit keine Option, sondern Befehl ist? «In einer Diktatur wäre eine lügenfreie Welt beunruhigend», sagt der Verhaltensökonom Michael Kurschilgen.

Ein Papierflieger in der Hand vor dem Strand.
Legende: Papierflieger statt Papierkram – eine Welt ohne Lügen könnte Bürokratie beinahe überflüssig machen. Getty Images / mrs

Denn die Lüge ist nicht nur Schummelei, sondern manchmal Rettungsring, Exit-Strategie, Notausgang. «Ohne die Möglichkeit, sich oder andere durch Lügen zu schützen, hätte eine Autokratie leichtes Spiel – und wäre kaum mehr loszuwerden», sagt Kurschilgen. Tatsächlich hat die Lüge einen schlechteren Ruf, als sie verdient. Denn Täuschung kann auch Widerstand sein.

Kapitel 7: Das Ende der Formulare?

Ehrlichkeit ist teuer. Milliarden fliessen jedes Jahr in Kontrollen, Prüfungen, Klauseln in Kleingedrucktem, die eh keiner liest. Eine Welt ohne Lügen, sagt der Verhaltensökonom Michael Kurschilgen, wäre vielleicht utopisch – aber hätte ihren Charme: «Wir betreiben enormen Aufwand, um Lügen zu verhindern – oder sie teuer zu machen. Ohne diesen Kampf gegen Betrug könnten wir extrem viel Bürokratie einsparen.»

Keine Steuererklärung mehr, keine Arbeitszeugnisse in Geheimcode, kein «Hiermit versichere ich wahrheitsgemäss, dass...». Und all das gesparte Geld? «Könnte in Gesundheitsversorgung, Bildung, Forschung oder Umwelt fliessen – zumindest in einer funktionierenden Demokratie.» Oder, ganz ehrlich: in besseren Kaffee in Büros.

Kapitel 8: Das Fazit – Wahrheit mit Mass

Mehr Ehrlichkeit würde manches gerechter machen – und anderes gnadenlos. «Man muss sich schon die Frage stellen, ob man einander anlügen darf, nur weil man selber Profit daraus schlägt», sagt Barbara Bleisch. «Was aber nicht heisst, dass man jedem ungefragt die Meinung sagen muss à la: Ich bin jetzt mal ehrlich.»

Max Frisch brachte es auf den Punkt: «Man sollte einander die Wahrheit wie einen Mantel hinhalten, dass man hineinschlüpfen kann – nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf geschlagen bekommt.» Vielleicht ist es genau das – nicht die Lüge, sondern die Art, wie wir Wahrheit vermitteln –, worüber wir nachdenken sollten.

10vor10, 20.3.2025, 21:50 Uhr

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