Als Lilian Senn eine junge Frau war, hätte sie sich nie vorstellen können, dass sie eines Tages auf der Strasse landet. «Nie hätte ich gedacht, dass mir das passieren könnte.» Auch darum sei es ihr wichtig, ihre Geschichte zu erzählen: «Das ist echt. Da ist nichts vorgespielt. Ich will den Menschen zeigen, was es bedeutet obdachlos zu sein.» Wenn man die 61-Jährige heute sieht, würde man kaum glauben, dass sie bis vor kurzem auf der Strasse lebte. Senn ist gepflegt, redet offen, wirkt selbstbewusst.
Senn ist sich gewohnt, von ihrem Schicksal zu erzählen: Sie arbeitet beim Verein Surprise und macht soziale Stadtrundgänge. In einem neu konzipierten Rundgang schildert sie, was es speziell für Frauen bedeutet, von Armut betroffen zu sein und auf der Strasse zu leben. «Frauen müssen stark sein, um auf der Gasse zu überleben», sagt Senn. Ganz alltägliche Bedürfnisse seien grosse Herausforderungen. «Nur schon sich umzuziehen oder zu duschen ist ein Problem.» In vielen sozialen Institutionen gebe es kaum Privatsphäre. «Als Frau ist man vielen Gefahren ausgeliefert.»
Ich sehnte mich nach Wärme und Herzlichkeit.
Zu den alltäglichen Problemen komme die psychische Belastung: «Ausgegrenzt zu werden, ist sehr schwierig. Das Misstrauen gegenüber Obdachlosen ist gross.» Es habe nur sehr wenige Orte gegeben, wo sie sich willkommen gefühlt habe. Manchmal habe sie das für ein paar Stunden in einem Kaffee finden können. «Ich sehnte mich nach Wärme und Herzlichkeit.»
Burnout, Jobverlust, Geldnot
Senn ist eine Kämpferin. Im Berufsleben wollte sie immer alles richtig machen. Das wurde ihr allerdings auch zum Verhängnis: Sie erlitt ein Burnout. Doch statt den Zusammenbruch aufzuarbeiten, stürzte sie sich in ein nächstes berufliches Projekt. Irgendwann sei aber alles zu viel gewesen: «Ich wollte keine Marionette mehr sein. Ich wollte nicht mehr mitspielen.» Senn bekam Geldnöte und entschied sich, auf der Strasse zu leben.
Und dann habe ich mich in Heiko verliebt.
Nach über vier Jahren ohne Wohnsitz hat Senn wieder Halt im Leben gefunden. Sie hat zusammen mit ihrem neuen Partner wieder eine eigene Wohnung. Sie strahlt, wenn sie die Geschichte von ihr und Heiko erzählt. Kennengelernt haben sich die beiden bei den sozialen Stadtrundgängen von Surprise. Beide lebten auf der Strasse und wollten ihre Erfahrungen teilen. «Heiko war einer meiner Ausbildner. Wir hatten viel Zeit und haben uns einander geöffnet. Und dann habe ich mich in Heiko verliebt.»
Das Strassenmagazin veröffentlichte einen Artikel über die aussergewöhnliche Liebesgeschichte. Das verhalf den beiden auch zu einer Wohnung: Eine Wohnbaugenossenschaft suchte den Kontakt zum Paar und bot ihnen eine Bleibe an. Senn sagt, sie sei jetzt glücklich: «Wir haben immer noch unsere Probleme, aber zusammen können wir diese einfacher lösen. Ich habe wieder einen Sinn im Leben gefunden.»