Die Menschen, die mit losen Zetteln, Ordnern und Reisepässen in der Hand in einem Bürogebäude im Zentrum Istanbuls verschwinden, wirken genervt. Hinter der Glastür befindet sich das Visa-Büro des Dienstleisters Idata. Türken, die nach Deutschland oder Italien reisen wollen, müssen hier vorsprechen. Einige der Antragsteller, die an diesem Morgen ihre Pässe einreichen, sind aufgeregt, andere widerwillig, fast wütend.
Ich wünschte, wir dürften endlich wie zivilisierte Menschen nach Europa reisen.»
«Natürlich ist dieses Visa-Verfahren nicht schön für uns. Es kostet jede Menge Zeit und auch Geld, alle geforderten Dokumente zu sammeln», schimpft Reyhan, eine angehende Ärztin, die zu einer Tagung nach Mailand will.
Rentner Neptün, dessen Söhne in Berlin leben, meint: «Sie beleuchten dein ganzes Privatleben, bevor sie dir ein Visum geben. Sie wollen Kontoauszüge sehen, den Gehaltsnachweis, den Mietvertrag. Ich wünschte, das Ganze würde abgeschafft und wir dürften endlich wie zivilisierte Menschen nach Europa reisen.»
EU gibt Visa-Freiheit nicht ohne Auflagen
Tatsächlich könnte es schon bald soweit sein. Denn im Zuge der Flüchtlingskrise ist die Visa-Freiheit für Türken plötzlich in greifbare Nähe gerückt. Schon ab Ende Juni, so verkündete Premier Ahmet Davutoglu seinen Bürgern nach dem letzten EU-Gipfeltreffen in Brüssel, könnten sie ohne Visa in den Schengen-Raum reisen.
72 Bedingungen muss der EU-Beitrittskandidat Türkei für die Visa-Freiheit erfüllen. Von technischen Details wie Fingerabdrücken auf türkischen Pässen bis hin zu Mammutaufgaben wie der Zusammenarbeit mit Problemnachbarn wie Bulgarien oder gar Zypern.
Termin «illusorisch»?
Für «von vornherein zum Scheitern verurteilt» halten Experten wie der türkische Politologe Cengiz Aktar das Projekt. Und auch Alper Ecevit vom Lehrstuhl für EU-Beziehungen an der Istanbuler Bahcesehir-Universität beurteilt zumindest den Termin Ende Juni als illusorisch.
«In einigen der 72 Bedingungen der EU geht es um Themen wie den Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität. Felder also, die zu den grössten innenpolitischen Problemen hier gehören. Jeder, der die Türkei kennt, weiss, dass man die jetzt nicht mal eben in drei Monaten lösen kann.»
Befürchtungen unberechtigt?
Nur etwa die Hälfte der EU-Bedingungen sei bisher erfüllt, sagen Insider. Ein Grossteil der anderen Hälfte halte die türkische Seite für so gut wie gelöst, Brüssel allerdings nicht. Vom angeblich alles entscheidenden Gipfel an diesem Freitag erwartet Politologe Ecevit deswegen im besten Fall einen Aufschub, nicht aber eine Entscheidung.
Dass vor allem die Konservativen in Europa dennoch schon jetzt Alarm schlagen, hält er nicht nur deswegen für unangemessen. Selbst wenn die Visa-Freiheit eines Tages käme, bräuchten sich die Europäer nicht zu fürchten, sagt Ecevit: «Schon jetzt werden ja 95 Prozent der türkischen Visa-Anträge genehmigt. So viel ändert sich also gar nicht.»
Schon heute werden 95 Prozent der türkischen Visa-Anträge genehmigt. So viel ändert sich also nicht.
Und selbst wenn der Visa-Zwang jetzt wegfiele, würden damit ja nicht gleich Wohn- oder gar Arbeitsgenehmigungen gewährt, sondern nur maximal drei Monate Aufenthalt im Schengen-Raum. Zudem sei der Zustand der europäischen Wirtschaft den Türken sehr wohl bekannt.
Freie Fahrt für Terroristen?
Dennoch: Längst nicht nur die bayerische CSU warnt vor «Missbrauch», wenn Türken erstmals visafrei reisen dürfen. Auch die französische Regierung will von den Plänen nichts wissen.
Doch auch das Schreckgespenst von türkischen IS-Terroristen, die in Zukunft problemlos nach Europa gelangen könnten, hält Experte Ecevit für vorgeschoben: «Wenn wir die Terroranschläge der letzten Zeit betrachten – egal ob in Frankreich oder in der Türkei – dann steckten dahinter immer Einheimische und nicht etwa Radikale, die mit ihren Waffen aus dem Ausland kommen und anderswo Anschläge verüben.»
Was bleibt, ist die Sorge all derer, denen die zunehmend schlechte Menschenrechtslage in der Türkei am Herzen liegt. Denn dazu schweigt die EU schon fast demonstrativ, seit sie zur Bewältigung der Flüchtlingskrise auf den einst so ungeliebten Partner Türkei angewiesen ist.