Die internationalen Truppen ziehen aus Afghanistan ab. Laut US-Regierung sollen bis spätestens im September alle amerikanischen Soldaten in Afghanistan das Feld geräumt haben. Zu spät für die Taliban. Denn noch unter Präsident Donald Trump hatten die USA einen Truppenabzug bis spätestens diesen Mai versprochen.
Als Konsequenz für die Verspätung haben die Taliban ihre Kampfhandlungen intensiviert. Vor allem im Süden des Landes. Etwa in ihrer ehemaligen Hochburg, in Kandahar. Dort besetzen und verwalten die Taliban schon jetzt wieder weite Teile der Provinz und sind bis auf wenige Kilometer vor die Stadt Kandahar vorgedrungen.
Kandahar, die frühere Hochburg der Taliban
Davon ist aber in der Stadt wenig zu spüren. An einem Freitagnachmittag spielen die Männer der Stadt entspannt «Eile mit Weile». Als ob der Konflikt in weiter Ferne wäre. Zu Hunderten sind sie in den neuen Stadtteil Ayno-Mina gepilgert.
«Heute ist Freitag. Wir sind mit dem Auto hierhergekommen, um unseren freien Nachmittag zu geniessen», sagt Mohammed Nassim, ein Händler der Stadt. Kandahar ist staubig und heiss. So sind die von Pinien gesäumten Strassen von Ayno Mina das einzige Naherholungsgebiet. Früher sind sie am Freitagnachmittag aufs Land gefahren, zum Dah-La-Staudamm etwa. Doch das sei heute nicht mehr möglich, erklärt Nassim.
Der Staudamm ist keine Stunde mit dem Auto von Kandahar entfernt und war zum Zeitpunkt des Interviews im April heftig umkämpft. «Ich habe Angst davor, dass die Taliban den Krieg gewinnen und in die Stadt kommen könnten», sagt der Händler. Aber dann wäre wenigstens der Krieg zu Ende, fügt er an.
Sein Spielnachbar, Jaquob Shagha, hat hingegen keine Angst vor den Taliban: «Als ganz normaler Zivilist lassen mich die Taliban in Ruhe. Sie haben es nur auf Regierungsangestellte und Angehörige der Armee abgesehen. Wenn die Taliban zurück an die Macht kommen, würde wenigstens wieder Ordnung herrschen. Heute wird einem ja alles gestohlen.»
Viele hier in Kandahar halten die Regierung für korrupt und unfähig. Sie wünschen sich die Taliban zurück. Denn Kandahar ist erzkonservativ. Keiner der Männer hier hat seine Frau zum Brettspiel mit eingeladen. Es ist eine Männergesellschaft.
Die Mehrheit sind Paschtunen, genauso wie die Taliban. Von hier aus haben sie ihre Herrschaft von 1996 bis 2001 vorbereitet. Kein Wunder, geniessen sie hier mehr Rückhalt in der Gesellschaft als anderswo.
Angst vor neuem Bürgerkrieg
Doch nicht alle sehen es gleich. Vor allem die vielen Tausend intern Vertriebenen können den Taliban wenig abgewinnen. Sie sind vom Konflikt in ihren Dörfern an den Stadtrand von Kandahar geflohen.
Unzählige Lehmhäuser reihen sich hier aneinander. Es gibt weder Wasser – noch Strom. Die Talibanherrschaft sei keine gute Zeit gewesen, sagt die von Kopf bis Fuss verhüllte Shekiba. «Alle hatten Angst vor ihnen. Wer gestohlen hatte, dem wurde die Hand abgehackt. Frauen, die ihren Pflichten nicht nachkamen, wurden gesteinigt. Das ist keine Art zu regieren.»
Sie selbst floh nach Pakistan, als die Taliban an die Macht kamen. Nun aber hätte sie keine Mittel mehr, um zu fliehen. Sie wäre den Taliban ausgeliefert, würden sie zurück an die Macht kommen.
Ihr Mann Agha Mohammed fürchtet sich vor etwas noch mehr als vor den Taliban, und zwar vor einem erneuten Bürgerkrieg: «Wenn nun die ausländischen Soldaten abziehen, ohne vorher für Frieden im Land gesorgt zu haben, dann gibt es wieder einen Bürgerkrieg, wie schon 1991.»
Damals, nach dem Abzug der sowjetischen Truppen, hätte eine Übergangsregierung die Geschicke des Landes leiten sollen. Doch sie war zu schwach, um die kriegerischen Fraktionen zusammenzuhalten.
Die sogenannten Warlords im Norden des Landes bekämpften die Taliban im Süden. Ein Bürgerkrieg, der allein in Kabul 50'000 Menschen das Leben kostete.
Viele dieser früheren Warlords besetzen heute hohe Posten im afghanischen Militär oder führen politische Parteien: Atta Mohammed Noor etwa, der König von Masar-e Sharif, wie er genannt wird. Er übt auch heute noch viel Einfluss auf die Politik in Afghanistan aus.
Noors Sohn nimmt an den Verhandlungen in Doha teil, an denen die Republik Afghanistan zusammen mit den Taliban über Frieden verhandelt. «Es ist immer die Rede von Verhandlungen zwischen der Regierung und den Taliban. Doch sind in Tat und Wahrheit drei Parteien beteiligt», sagt Noor. «Die Taliban, die Regierung und wir, die früheren Kriegsfürsten. Eine Lösung des Konflikts muss also alle drei Seiten berücksichtigen.»
Ist die Teilung des Landes die Lösung?
Noor schlägt eine Machtteilung vor: «Am besten ist es, das Land in politische Herrschaftsgebiete aufzuteilen.» Die Taliban erhielten den Süden um Kandahar, die Regierung das Zentrum um Kabul und die Warlords – wie er – würden ihre ursprünglichen Stammesgebiete im Norden und im Westen zurückerhalten.
Für ihn sicher eine ideale Lösung. Denn er hat noch immer viel Macht im Norden des Landes und will, dass weder die Regierung noch die Taliban ihm diese streitig machen. Doch auch für die Taliban sei es eine goldene Chance, sagt Atta Noor: «Die Taliban sollten diese einmalige Möglichkeit nutzen und dieser Machtteilung zustimmen. Wenn nicht, wäre ein Bürgerkrieg unvermeidbar.»
Diese direkte Drohung an die Taliban zeigt: Krieg ist immer noch eine Option. Er und andere ehemalige Kriegsfürsten unterhalten noch immer private Milizen, die sie jederzeit wieder mobilisieren können.
Das weiss auch einer der obersten Vermittler auf der Seite der Republik Afghanistan, Abdullah Abdullah. Während des Bürgerkrieges stand er Seite an Seite mit Atta Noor, heute ist er Vorsitzender des Hohen Rates der Nationalen Versöhnung und vertritt andere Ansichten.
Von einer Aufteilung des Landes hält er wenig: «Nein, ich würde das im Moment nicht in Betracht ziehen. Viel wichtiger ist es mir, die Positionen der verschiedenen Parteien kennenzulernen.»
Und das ist genau seine Aufgabe. Der Versöhnungsrat will die Positionen der Republik Afghanistan zusammenführen. Also die Positionen der früheren Warlords wie Atta Noor; die Position der Regierung, die an der Macht bleiben will und die Positionen der Oppositionsparteien und jene der Frauen und Minderheiten des Landes, die auf ihre Rechte pochen.
Noch ist man weit entfernt von einer einheitlichen Position, schon nur auf der Seite der Republik Afghanistan. Abdullah schlägt eine Übergangsregierung vor, welche die Taliban einbinden würde: «Zusammensetzung und Dauer dieser Übergangsregierung müssten aber noch mit den Taliban ausgehandelt werden.»
Wie der ehemalige Kriegsfürst verfolgt auch Abdullah eine eigene Agenda mit seinem Vorschlag für Frieden. Denn die Vertreter der aktuellen Regierung hätten kaum Platz in einer solchen Übergangsregierung.
Präsident Ashraf Ghani, Abdullahs alter Widersacher, müsste den Hut nehmen. Abdullah verlor gegen Ghani die letzten beiden Präsidentschaftswahlen. Es waren sehr undurchsichtige Wahlen, in denen Wahlbetrug offenkundig war. Mit einer Übergangsregierung wäre Abdullah Ghani also endlich los.
Kampf um Menschenrechte
Abdullah und Noor sind zwei führende Politiker im Land. Alle scheinen sie ihre Partikularinteressen in den Verhandlungen durchbringen zu wollen – im Namen des Friedens in Afghanistan. «Wir wissen nicht mehr, was Frieden heisst», sagt Sima Samar, die langjährige Menschenrechtsbeauftragte von Afghanistan.
Samar vermisst etwas ganz besonders an den Verhandlungen in Doha: Kriegsfürsten, Drogenbarone, Politiker sitzen da, aber niemand vertritt die Menschenrechte. «Wir sind schlicht nicht wichtig genug. In Afghanistan geben immer noch die den Ton an, die die Waffen haben: Die Taliban, die Regierung und die Warlords. Sie alle predigen Frieden und töten Zivilisten.»
Die alten politischen Eliten, und da gehören die Taliban dazu, versuchen in Doha eine Machtteilung untereinander zu vereinbaren, um einen Waffenstillstand auszuhandeln. Alle wollen ein Stück vom Kuchen. Doch Frieden gehe viel weiter als nur ein Waffenstillstand, sagt Sima Samar: «Frieden bedeutet Rechtsstaatlichkeit, dass Menschen in Würde und ohne Angst leben können. Echter Frieden ist nicht nur ein Waffenstillstand.»
Und so drohen eben diese Rechtsstaatlichkeit oder die Menschenrechte erneut unterzugehen, im Namen eines sogenannten Friedens in Afghanistan.
Doch vielleicht kann nur auf diese Weise, Schlimmeres, ein Bürgerkrieg, das grosse Trauma, verhindert werden.