SRF: In Hongkong versucht die Regierung, mit dem Abzug der Polizei die Lage zu beruhigen. Geht ihre Strategie auf?
Markus Rimmele: Dass die Bereitschaftspolizei zurückgerufen wurde, ist eher ein taktisches Manöver, um zu zeigen, wir deeskalieren, wir wollen etwas Ruhe in die Sache hineinbringen. Dies zumal die Demonstranten tagsüber etwas weniger geworden sind. Das könnte sich aber jederzeit wieder ändern. Der Protest ist mitnichten vorbei. Wenn die Strassen heute Abend wieder voller werden, wird es auch nicht lange dauern, und die Bereitschaftspolizei ist wieder da.
Wie stark ist die Hongkonger Regierung von Peking aus gesteuert?
Die Regierung in Hongkong hat schon aus freien Stücken entschieden. Sie ist aufgrund ihres Sonderstatus' innerhalb China autonom in diesen Fragen. Gerade solche polizeilichen Dinge sind eigentlich eine Hongkonger Angelegenheit. Nichtsdestotrotz wissen alle, dass Peking immer mitredet. Insofern ist das vielleicht abgesprochen – aber das ist Spekulation, das vermag ich nicht zu beurteilen.
Nun gibt es diesen Rückzug der Polizei und gleichzeitig die Aufforderung der Regierung, nach Hause zu gehen. Lassen sich die Demonstranten davon beeindrucken?
Bislang liessen sie sich nicht beeindrucken. Einige sind zwar nach Hause gegangen. Das hat aber mehr mit Erschöpfung zu tun. Sie waren die ganze Nacht draussen. Sie sind müde und brauchen eine Pause. Viele sind jedoch sehr entschlossen, den Prozess so lange weiterzuführen, wie es eben geht. Viele legen es auch darauf an, von der Polizei mit Gewalt vertrieben zu werden. Sie leisten passiven zivilen Ungehorsam. Es wird zwar passiv, aber sehr bestimmt demonstriert, und wenn die Polizei das nicht haben will, dann müssen sie eingreifen und die Leute wegtragen.
Wie stark beeinträchtigen die Demonstrationen das öffentliche Leben in der Stadt?
Heute Morgen gab es grosse Probleme. Etwa 200 Buslinien wurden entweder ganz unterbrochen oder sie wurden umgeleitet. Die Strassenbahn fuhr nicht mehr. Viele Hauptverkehrsstrassen in der Stadt waren betroffen. Nach wie vor ist der Verkehr in Hongkong stark behindert. Immerhin funktioniert die U-Bahn. Damit können die Leute noch zur Arbeit kommen. Hongkong hat heute schon eine Art Ausnahmezustand.
Wie stark ist der Rückhalt der Demonstranten in der Bevölkerung?
Eine Mehrzahl der Hongkonger wünscht sich demokratischere Verhältnisse. Aber die Frage ist, wie man dahin kommt. Es ist nur eine Minderheit der Hongkonger, etwa 30 Prozent, die diese Occupy-Central-Bewegung gutheissen. Vielen ist das zu radikal.
Hat die Hongkonger Demokratiebewegung Einfluss auf andere chinesische Städte?
Vielleicht, wenn es eine direkte Verbindung zwischen Hongkong und anderen chinesischen Städten gäbe. Die ist aber kaum da, was Informationen betrifft. China hat ein so strenges Regime bezüglich der Medien, dass die meisten Menschen gar nicht verstehen, was in Hongkong los ist. Es wird berichtet, dass es Auseinandersetzungen gab. Aber was genau der Hintergrund ist, wird nicht erklärt. Es entsteht eher ein Bild von ein paar Krawallmachern, die den Hals nicht voll kriegen können und undankbar gegenüber dem chinesischen Festland sind.
Bislang sehen wir nicht, dass es so etwas wie eine Ansteckung anderer Städte gäbe – oder auch nur den Versuch einer ähnlichen Aktion in China. Das wäre auch kaum möglich. China ist in diesen Fragen sehr stark unter Kontrolle der Behörden. Wer versucht, auch nur in Anfängen eine Protestbewegung aufzubauen, hat sofort Probleme mit den Behörden.
Das Gespräch führte Lorenzo Bonati.