Anfang September sind nach einem Raketeneinschlag auf einem Markt im ukrainischen Konstantinowka 15 Menschen gestorben. Zunächst hiess es, die Rakete sei eine russische. Nun kommt die «New York Times» nach einer Recherche zum Schluss, eine fehlgeleitete ukrainische Rakete sei möglicherweise für das Unglück verantwortlich gewesen. David Nauer, Auslandredaktor und ehemaliger SRF-Russland-Korrespondent, schätzt die Recherche der «New York Times» ein.
SRF News: Wie plausibel ist die Recherche der «New York Times», die Rakete, die in Konstantinowka einen Markt getroffen hat, sei ein ukrainischer Querschläger?
David Nauer: Mir scheint die Recherche plausibel zu sein. Die Kollegen von der «New York Times» haben Augenzeugen befragt. Sie haben den Ort des Einschlags der Rakete besichtigt und Videos sowie Satellitenbilder ausgewertet. Aus all diesen Puzzleteilen ergibt sich ein Bild. Gemäss diesem Bild kann es gut sein, dass der Markt von Konstantinowka von einer ukrainischen Rakete getroffen wurde. Die «New York Times» vermutet, dass die Rakete defekt war oder fehlgeleitet wurde.
Die Recherche ist also plausibel, einen Beweis hat die «New York Times» aber nicht.
Nein, es gibt keinen endgültigen Beweis. Es gibt nur mehrere Indizien. Es ist nach wie vor grundsätzlich denkbar, dass es doch eine russische Rakete war. Die ukrainische Regierung besteht weiterhin auch darauf, dass die Rakete von Russland kam.
Die Rakete, die auf Konstantinowka fiel, hat gut zur rücksichtslosen russischen Kriegsführung gepasst.
Zunächst zweifelte kaum jemand an der Urheberschaft Russlands – wohl auch, weil Russland immer wieder zivile Ziele in der Ukraine angreift.
Das stimmt. Mehrere Medien und auch wir haben von einem russischen Angriff gesprochen. Der Grund für diese vorschnelle Schuldzuweisung waren die systematischen Angriffe Russlands auf zivile Ziele der Ukraine. Wenn ich durch die Ukraine reise, sehe ich immer wieder zerstörte Wohnhäuser, Schulen, Einkaufszentren oder Hotels. Die Rakete, die auf Konstantinowka fiel, hat gut zur rücksichtslosen russischen Kriegsführung gepasst.
Nach heutiger Informationslage war es also ein Fehler, Russland gleich die Schuld zuzuweisen. Wie gehen Sie als Reporter mit dieser Unsicherheit der Verantwortlichkeiten um?
Ich war zum Beispiel einmal in einem komplett zerstörten Dorf, um das es zuvor heftige Kämpfe gab. Da ist es unmöglich festzustellen, welches Haus von einer russischen und welches von einer ukrainischen Granate zerstört wurde. In anderen Fällen ist es dagegen einfach. Einmal war ich zum Beispiel in Charkiw, da gab es erst Luftalarm und danach eine schwere Explosion, die ein Wohnhaus zerstörte. Da kann man dann mit grosser Wahrscheinlichkeit von einem russischen Angriff ausgehen. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, mit was für einem Krieg wir es hier zu tun haben. Wenn Putin diesen Krieg nicht begonnen hätte, dann würde in der Ukraine gar nicht geschossen.
Die Glaubwürdigkeit ist für die Ukraine eine unglaublich wichtige Ressource
Fehlgeleitete Raketen gibt es immer wieder im Krieg, dennoch wäre das für Selenski jetzt ein Fiasko.
Natürlich leidet die Glaubwürdigkeit von Selenski, wenn er kurz nach dem Angriff von Konstantinowka schon auf die Russen zeigt und sich dann später herausstellt, dass alles nicht so eindeutig ist. Die Glaubwürdigkeit ist für die Ukraine eine unglaublich wichtige Ressource. Der Westen unterstützt die Ukraine sehr stark, auch weil man im Westen überzeugt ist, dass die Ukrainer im Recht sind. Wenn nun aber irgendwann der Eindruck entsteht, Selenski erzähle die Unwahrheit, dann hat das unter Umständen fatale Folgen für die Ukraine.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.