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Mikroskop-Aufnahme eines Anthrax-Erregers, veröffentlicht vom US-Verteidigungsministerium.
Legende: 1975 ratifizierten die USA ein Abkommen zum Verzicht auf Biowaffen. In den Laboren «lebt» Anthrax weiter. Keystone

International Anthrax: Forschung als Gesundheitsrisiko

Die US-Armee hat versehentlich Proben mit lebenden Milzbrand-Erregern versandt – rund um den Globus, wie nun publik wurde. Der Fall ist nicht frei von Ironie: Forschung im Dienste der nationalen Sicherheit wird selbst zur Gefahr. Das Pentagon will aufkeimender Hysterie entgegenwirken.

Der Skandal um den laxen Umgang der US-Armee mit dem tödlichen Milzbrand-Erreger Anthrax ist schwerwiegender als bisher bekannt. Gemäss Pentagon gingen Proben mit lebenden Anthrax-Erregern an insgesamt 51 Labore in 17 US-Bundesstaaten und der Hauptstadt Washington. Weitere Lieferungen gingen den Angaben zufolge nach Australien, Kanada und an einen US-Stützpunkt in Südkorea.

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Ende Mai hatte das Pentagon erklärt, an 18 Labore seien lebende Anthrax-Erreger geschickt worden. Eine ernsthafte Gefahr für die Öffentlichkeit habe aber nicht bestanden. Die Konzentration in den Proben sei zu niedrig gewesen, um sich zu infizieren. Es gebe keine Verdachtsfälle oder bestätigte Fälle von Anthrax-Infektionen.

Trotz der Deeskalationskampagne der Regierung: die Empörung in den USA ist gross. Aus europäischer Warte erstaunt derweil, warum ein derart sorgloser Umgang mit gefährlichen Substanzen gerade in den sicherheitsgetriebenen USA möglich ist.

Dicke Post – auch für die Obama-Administration

Und das nicht zum ersten Mal, wie Walter Niederberger, USA-Korrespondent des «Tages-Anzeigers», ausführt. «Es ist bereits der vierte oder fünfte Fall innert weniger Monate; nicht nur Anthrax, sondern auch andere fehlerhafte Sporen, Erreger und Bakterien wurden verschickt.» Letztes Jahr entdeckten Ermittler Anthrax-Proben in nicht verschlossenen Kühlschränken; die Versäumnisse im Umgang mit den biologischen Kampfstoffen scheinen mehr als ein Betriebsunfall zu sein.

Rufschädigend dürfte die unliebsame Post jedoch nicht vorrangig für die Armee sein. Denn sie geniesse in den USA von allen Institutionen das höchste Ansehen, so Niederberger: «Solange die Sporen nicht an Privathaushalte gehen, dürfte das Pentagon PR-mässig relativ sicher sein.»

Die Zwischenfälle bestätigten vielmehr das Image einer «nicht sehr kompetenten Regierung». «Dieses ist sehr stark verbreitet und wird auch politisch ausgenützt,» so Niederberger.

«Anthrax-Boom» nach Anschlag von 2001

Tödlicher Brief

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Brief mit Milzbranderreger
Legende: Keystone/Archiv

2001 starben in den USA fünf Personen. Sie kamen in Kontakt mit einem anonym verschickten Brief, der den tödlichen Erreger enthielt. Der Täter, der die Briefe mit dschihadistischen Losungen versah, konnte nie zweifelsfrei ermittelt werden. 2008 fiel der Verdacht auf einen US-Mikrobiologen; er beging Selbstmord, bevor er befragt werden konnte.

Was eigentlich dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit dienen sollte, droht nun zum Bumerang zu werden – für die Obama-Administration. Sie stand jedoch nicht am Anfang des Forschungsprogramms. Denn die intensive Beschäftigung mit dem tödlichen Erreger ist als Reaktion auf den Anthrax-Anschläge von 2001 (vgl. Box) erfolgt.

So sollte der Versand der vermeintlich abgetöteten Sporen dazu dienen, neue Technologien zur Identifikation von Anthrax zu entwickeln, und das gesammelte Wissen an ein Netzwerk von über 320 Forschungsstellen im Land zu verteilen.

Kollektive Hysterie verhindern

Forschung im Dienste der öffentlichen Sicherheit also – die nun in ihr Gegenteil verkehrt wurde: «Das ist das Ironische an diesem Fall», so Niederberger. «Heute beschäftigen sich 40 Mal mehr Leute in den USA mit Anthrax. Deswegen ist auch das Risiko eines Zwischenfalls grösser geworden, nur eben durch Labors.»

Die Gefahr eines solchen Zwischenfalls sei inzwischen sogar grösser als die Gefahr eines Anschlags durch Terroristen, so Niedergeber. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die ungewohnt offenherzige Informationspolitik des Pentagons: «Der Anschlag von 2001 hat gezeigt, wie schnell die Leute hier an den Rand einer Panik geraten können.» Dem wolle man nun mit einer transparenten Informationspolitik entgegenwirken.

Anzeichen einer kollektiven Hysterie, wie sie nach den Milzbrand-Briefen im Gefolge von 9/11 aufzukommen drohte, gebe es zwar diesmal nicht, sagt der USA-Korrespondent. «Doch es braucht nicht viel: Die Anschläge haben gezeigt, wie schnell die Leute hier an den Rand einer Panik geraten können.»

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