Seit der Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki weiss jeder, welch verheerende Wirkung Atombomben haben. Was die meisten jedoch ignorieren, ist, welche enormen Gefahren auch von nicht eingesetzten Atombomben ausgehen.
Das beschreibt Eric Schlosser in seinem Buch «Command and Control». Er zeigt minutiös auf, dass die Menschheit schon mehrmals haarscharf an Katastrophen vorbeigeschrammt ist – durch Irrtümer, Fehlentscheidungen, Schlamperei und technisches Versagen rund um die Tausenden von Atombomben weltweit.
Keine Fortschritte bei der Abrüstung
Seit Jahren kommt die atomare Abrüstung kaum voran. Noch immer gibt es weltweit fast 20'000 nukleare Sprengköpfe – Tausende davon in höchstem Alarmzustand. Sie stellen ein enormes Risiko dar. Deshalb macht das IKRK Druck, unterstützt von vielen Ländern, auch von der Schweiz. IKRK-Präsident Peter Maurer fordert nicht nur ein Verbot des Einsatzes von Atomwaffen, sondern deren vollständige Vernichtung.
Diese Anti-Atomwaffenlobby lieferte dem US-Autor bei seinen Recherchen die denkbar besten Argumente. Sein Buch «Command and Control», das soeben auch auf Deutsch erschienen ist, wurde im englischen Sprachraum sofort zum Bestseller.
Hochriskante Situationen keine Einzelfälle
Es ist eine verstörende Lektüre. Die Zeitung «Financial Times» nennt es das «alptraumhafteste Buch seit Jahren». Drei Jahre recherchierte Schlosser in der streng geheimen Welt der Atomwaffen, ackerte Tausende Dokumente durch, sprach mit Direktbeteiligten, Bomberbesatzungen, Raketensoldaten und Atomwaffenentwicklern.
Damit konnte er beweisen: Riskante Zwischenfälle gibt es nicht bloss vereinzelt, sondern hundertfach, tausendfach, immer und immer wieder. «Allein in den USA waren 1200 Nuklearwaffen involviert», erklärt Schlosser im Gespräch.
Der Mensch ist fehlbar, die Technologie ist fehlbar. Bloss: Bei Atombomben verträgt es keine Fehler. Schon der kleinste kann zur Katastrophe führen.
Lange Liste von atomaren Beinahe-Unfällen
Schlosser erzählt von himmelschreienden Fällen. Von 1968, als in einem Bomber, der im Kalten Krieg rund um die Uhr in der Luft kreiste, Feuer ausbrach – wegen einer Schaumstoffmatte, welche die Besatzung aus Bequemlichkeit mitgenommen hatte.
Von einer Titan-II, der grössten je gebauten Atombombe, mehr als hundertfach so potent wie die Nagasaki-Bombe: Sie wurde durch einen im Silo herunterfallenden Stecker beschädigt. Durch ein Leck floss Gift aus, es kam zur Explosion, die Bombe flog aus dem Silo und explodierte in einem Graben – zum Glück ohne atomare Fracht.
In einem anderen Fall, im Jahr 2007, wurden bei einem Transport sechs atomar bestückte Marschflugkörper eineinhalb Tage lang einfach in einem Flugzeugrumpf vergessen. Der Pilot des Fliegers wusste gar nicht, welche Fracht er beförderte.
Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Manchmal war es Kompetenz, ja Heldentum von simplen Soldaten, die das Schlimmste verhinderten. Und sehr oft schieres Glück.
«US-Arsenale sind die sichersten der Welt»
Schlosser zitiert den Chef des US-Atomprogramms, der in einer Anhörung im Senat einräumte, man könne nicht endgültig wissen, ob Hacker nicht einen Atomschlag auslösen könnten. Sträflich ignoriere die politische Führung in Washington die Risiken.
Trotz allem sagt Schlosser: die US-Arsenale seien die sichersten der Welt. Doch das beruhigt nicht. «Wenn wir schon derart viele Probleme haben – wie steht es dann erst um die Nukleararsenale in Indien, Pakistan, Russland, Nordkorea?», fragt er.
Klar machen Schlossers Ermittlungen: Solange es Atomwaffen gibt, existiert die Menschheit ständig am Rande des Abgrunds.