Die Mittepartei der demokratischen Bewegung hätte es gestern in der Hand gehabt, der Regierung der linken Arbeiterpartei sofort die Gefolgschaft aufzukündigen. Das war es auch, was die Mehrheit der Delegierten am Parteikongress in Brasilia wollte.
Gnadenfrist für die Präsidentin
Aber die Leitung der Partei, die stärkste in Brasilien und im Parlament, plädierte für kalte Wickel. Und setzte sich damit durch. Statt die Koalition sofort zu verlassen, gibt sie Rousseff eine Gnadenfrist. Wohl in der Hoffnung, die Präsidentin trete von sich aus zurück.
Es sei jetzt nicht die Zeit, Türen zuzuschlagen; die Partei müsse sich vielmehr um die Stimmen kümmern, sagte der Vorsitzende. Gemeint sind die Stimmen in den beiden Häusern des Parlaments, im Hinblick auf das laufende Amtsenthebungsverfahren gegen die Staatschefin. Dutzende Parlamentarier, deren Privilegien eng mit der Rousseff-Regierung verbunden sind, zögern noch, sich in der Vertrauensabstimmung gegen die Staatschefin zu wenden.
Neue Vorwürfe gegen Rousseff
Die Reihen der Regierungsanhänger beginnen sich allerdings immer schneller zu lichten. Dafür sorgt allein schon die Eigendynamik der politischen Krise. Eben ist bekannt geworden, dass die Regierung der Arbeiterpartei sich auch am Bau des Urwald-Wasserkraftwerks Belo Monte bereichert hat. Zehn Millionen Dollar davon haben Wahlkämpfe finanziert, unter anderem den letzten von Dilma Rousseff.
Auch dass sich die Auseinersetzung um die Macht zusehends auf die Strassen verlagert, schürt den Veränderungsdruck. Heute Sonntag finden in ganz Brasilien massive Demonstrationen für die Absetzung von Dilma Rousseff statt. Allein in der Stadt Sao Paulo werden rund eine Million Menschen zur Kundgebung erwartet.
Fallen drohen zuzuschnappen
Dass die Brasilianer die Macht jetzt herausfordern, statt sich wie gewohnt vor ihr zu verneigen, stimmt die Volksvertreter reiherum nachdenklich.
Zuletzt ist auch Lula da Silva, der Uebervater der Linken und Mentor der Präsidentin, im freien Fall. Die Bundesjustiz, die die Korruption untersucht, hat den zweifachen Staats- präsidenten ebenso im Visier wie die Staatsanwälte in Sao Paulo. Schon bald werde die eine oder die andere Falle für Lula da Silva zuschnappen, berichten die grossen Medien.
Handlungsunfähig ist die Rousseff-Regierung schon seit Monaten. Zwischen der Präsidentin und ihrer Partei gibt es Streit über den Sparkurs. Rousseff will öffentliche Investitionen streichen und das Rentenalter erhöhen, weil die staatliche Altersversicherung jedes Jahr grössere Löcher in den Haushalt reisst.
Die letzten Felle schwimmen davon
Die Genossen hingegen sind blind davon überzeugt, sobald öffentliches Geld fliesse, seien die Wähler schnell besänftigt. Und sie beharren darauf, Devisenreserven einzusetzen, um die schwer rezessive Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.
Doch all dies dürfte Wunschdenken bleiben: Dilma Rousseff und ihrer Arbeiterpartei schwimmen gerade die letzten Felle davon.