Was will Premier Cameron?
Im Februar haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU auf ein Reformpaket geeinigt. Der britische Premier David Cameron hatte an einem Gipfel in Brüssel darauf gepocht. Damit wollte er den Austritt Grossbritanniens aus der EU zu verhindern.
Die wichtigsten Zugeständnisse der EU im Überblick:
- Grossbritannien soll nicht dazu verpflichtet werden, jeden Integrationsschritt in der EU mitmachen zu müssen. Bei einer künftigen Änderung der EU-Verträge soll das Recht verankert werden, die Vertiefung nicht mitmachen zu müssen.
- Nationale Parlamente sollen ein stärkeres Mitspracherecht haben und EU-Gesetze kassieren oder Änderungen verlangen können, wenn sie insgesamt mehr als 55 Prozent der für die Parlamente vorgesehenen Stimmen repräsentieren.
- Mit der von Grossbritannien David Cameron geforderten «Notbremse» sollen EU-Ausländer für vier Jahre von den Sozialleistungen ausgeschlossen werden können. Die «Notbremse» selbst darf für insgesamt sieben Jahre aktiviert werden. Allerdings nur, wenn eine Überlastung des Sozialsystems eines EU-Staates festgestellt wird. Zudem soll die Zahlung von Kindergeld an die wirtschaftliche Situation des EU-Herkunftslandes gekoppelt werden.
Ein möglicher Austritt Grossbritanniens aus der EU ist seit langem Thema – nicht erst seit den Wahlerfolgen der euroskeptischen UKIP. Premier David Cameron reagierte auf den wachsenden Druck – auch aus den eigenen Reihen.
So hatte er bereits vor der Unterhauswahl 2015 versprochen, bei einem Wahlsieg der Tories ein Referendum über den Verbleib in der EU abzuhalten. Dieses soll nun am 23. Juni stattfinden. Mit den EU-Zugeständnissen im Sack wirbt Cameron nun für den Verbleib in der EU.
Zerfällt das Vereinigte Königreich?
Schottland, Wales und Nordirland profitieren von der finanziellen Unterstützung durch die EU mehr als England. Allein aus den Strukturförderfonds der EU für 2014 bis 2020 sollen fast zwei Milliarden Euro nach Wales fliessen, schreibt Spiegel-Online. Die EU-Zahlungen werden für Nordirland auf 500 Millionen und für Schottland auf 900 Millionen Euro beziffert.
Kein Wunder also, dass diese Landesteile als EU-freundlich gelten. Im Falle eines Brexit wird beispielsweise in Schottland mit einem Unabhängigkeitsreferendum gerechnet. «Wenn wir gegen unseren Willen aus der EU gezerrt würden, dann würden sich 60 Prozent aller Schotten für eine Unabhängigkeit aussprechen», meint der ehemalige Parteichef der Scottish National Party, Alex Salmond.
Für Nordirland stelle die EU-Mitgliedschaft auch eine Verbindung mit dem Rest Irlands dar, sagt SRF-Korrespondent Martin Alioth: «Mit einem Austritt des Vereinigten Königreichs entstünde eine EU-Aussengrenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland, die selbstverständlich EU-Mitglied bliebe.» Es drohe ein Abbau der im irischen Friedensprozess aufgebauten gemeinsamen Nord-Süd-Institutionen.
Spekulationen über ein Auseinanderfallen Grossbritanniens im Falle eines Brexit beurteilt Alioth zum jetzigen Zeitpunkt dennoch als Schwarzmalerei: «Es gibt keine Kausalitäten, etwa ‹wenn dies geschieht, dann geschieht ganz bestimmt das›. Würde das Vereinigte Königreich der europäischen Integration den Rücken kehren, brächte das aber «mehr Unsicherheit auf allen Ebenen», sagt Alioth.
Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein Brexit für Grossbritannien?
- Binnenmarkt in Gefahr
Der wichtigste Handelspartner Grossbritanniens ist die Europäische Union. Über die Hälfte der britischen Exporte gehen in EU-Staaten. Die entspricht 15 Prozent des britischen Bruttoinlandprodukts. Und die Güter, die Grossbritannien importiert, stammen zu mehr als 50 Prozent aus der EU. Damit wird deutlich, wie eng Grossbritannien mit der EU wirtschaftlich verzahnt ist. Je näher der Brexit rückt, desto lauter warnen Wirtschaftsexperten vor einem Austritt – auf beiden Seiten des Ärmelkanals.
Ein Brexit hätte für die Insel unüberschaubare Konsequenzen. Denn mit dem Austritt aus der EU wären auf einen Schlag die vier Grundpfeiler des europäischen Binnenmarkts ungültig. Welche Grundpfeiler sind das? Freier Güter-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr. Was müsste Grossbritannien tun, um sich die Vorzüge des Binnenmarkts zu sichern? London müsste mit Brüssel die Wirtschaftsbeziehungen neu aushandeln. Doch wie würden die EU und Grossbritannien die Wirtschaftsbeziehungen regeln?
Szenarien einer Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung
«Sanfter Ausstieg»: Im – aus britischer Sicht – günstigsten Fall erhält das Vereinigte Königreich einen ähnlichen Status wie die Schweiz oder Norwegen. Damit würde ein Handelsabkommen mit der EU bestehen. Vorteil aus britischer Sicht wäre, dass es keine Zölle gäbe. Allerdings würde das Problem der sogenannten nicht-tarifären Handelshemmnisse bestehen. Dabei handelt es sich beispielsweise um Vorschriften bei der Beschriftung von Produkten, mengenmässige Beschränkungen oder Qualitätsanforderungen, die sich auf die Warenströme auswirken. Wenn diese Regeln nicht mehr einheitlich sind – weil durch das Ausscheiden Grossbritanniens aus der EU – wieder unterschiedliche Regeln gelten, entstehen für Unternehmen zusätzliche Kosten. |
«Tiefer Schnitt»: Im zweitgünstigsten Szenario bestehen keine Handelsabkommen wie mit Norwegen oder der Schweiz. Die Folge: Sowohl britische als auch EU-Unternehmen müssten wieder Zölle zahlen. Die Waren verteuern sich. |
«Isolierung»: Im schlimmsten Fall verliert Grossbritannien alle Privilegien – auch jene, dies sich aus den 38 existierenden Handelsverträgen der EU mit anderen Staaten ergeben. |
Die Studie des ifo Instituts kommt zum Schluss, dass die Briten bei allen drei Szenarien mit deutlichen Nachteilen rechnen müssten. Die Folgen wären «ein Anstieg der Kosten britischer Exporte sowie eine Verteuerung importierter Produkte». Gibt es auch Vorteile? Die Studienverfasser benennen lediglich Einen: Grossbritannien müsste bei einem Ausscheiden keine Zahlungen für den EU-Haushalt leisten. Im Jahr 2013 lag der Betrag, den London nach Brüssel überwies, bei rund 8,64 Milliarden Euro. Das sind rund 0,5 Prozent der durch das BIP gemessenen britischen Wirtschaftskraft, die die EU in ihrem Haushalt kompensieren müsste.
- Finanzbranche in Gefahr
Was haben namhafte US-Banken gemeinsam? Ob Goldman Sachs, JP Morgan, Morgan Stanley oder die Bank of America, sie alle haben ihre Europazentrale in London. Fakt ist: Der Londoner Finanzplatz ist ein Schwergewicht unter den weltweiten Finanzmärkten. Stimmen die Briten gegen einen Verbleib in der EU, droht dem billionenschweren Euro-Handel an der Themse ein Ende.
Warum? «Bei einem Austritt Grossbritanniens aus der EU können die Behörden der Euro-Zone nicht länger tolerieren, dass ein grosser Anteil von Finanztransaktionen im Ausland abgewickelt wird», betont Christian Noyer. Er ist ehemaliger Vize der Europäischen Zentralbank (EZB). Und weiter: «Für die Mitglieder der Euro-Zone ist es bereits jetzt schwer zu akzeptieren, dass unsere Währung zum Grossteil ausserhalb der Währungsgemeinschaft und damit ausserhalb der Kontrolle der EZB gehandelt wird», schreibt der ehemalige französische Notenbankchef in einem Beitrag für die Denkfabrik OMFIF.
Eine besondere Stellung haben auch die sogenannten Termingeschäfte auf dem Londoner Finanzplatz. Gemäss der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) werden mehr als die Hälfte der weltweiten Zinsterminkontrakte in London abgewickelt. Diese haben ein Gesamtvolumen von jährlich 383 Billionen Euro – mehr als das fünffache der weltweiten Wirtschaftsleistung. Abgewickelt werden diese Geschäfte über LCH.Clearnet. Das ist eine Tochter der Londoner Börse LSE.
Ein Wegfall des LCH.Clearnet-Geschäfts und die wahrscheinliche Abwanderung von Banken: Dies wäre nicht nur für die Londoner Börse ein Problem, sondern auch für ganz Grossbritannien. Denn die Londoner City, wie die dortige Finanzindustrie meist genannt wird, ist verantwortlich für 12 Prozent der britischen Wirtschaft. Pro Jahr überweisen die Institute umgerechnet mehr als 80 Milliarden Euro Steuern an das königliche Schatzamt.
- Landwirtschaft in Gefahr
Auch für die britischen Bauern und die Landwirtschaft hätte ein Brexit Folgen. Derzeit stammen bis zu 50 Prozent ihres Einkommens von EU-Subventionen. Tagesschau.de zitiert aus einer Studie eines Londoner Think Tanks: «Agra Europe hält es für unwahrscheinlich, dass die britische Regierung im Brexit-Fall jenen Teil der Subventionen übernähme, den die EU schultert.» Deshalb könnten nur die Super-Effizienten, die oberen zehn Prozent, ohne die EU-Subventionen überleben.
Was würde sich für EU-Bürger in Grossbritannien ändern?
Rund drei Millionen ausländische EU-Bürger leben aktuell in Grossbritannien. Unklar ist, wie sich ihr Aufenthaltsstatus ändert. Dies hängt von den Verhandlungen nach dem Brexit ab, schreibt Spiegel-Online. Einerseits hat Grossbritannien sicherlich ein Interesse daran, dass britische Staatsbürger möglichst ihre Privilegien in der EU behalten können. Andererseits könnte Brüssel darauf bestehen, dass EU-Bürger die gleichen Rechte in Grossbritannien haben.
Dies erinnert an die Situation in der Schweiz und Norwegen: Beide Länder sind nicht EU-Mitglieder. Trotzdem haben ihre Bürger das Recht, in allen EU-Ländern zu leben und zu arbeiten. Umgekehrt dürfen sich EU-Bürger in der Schweiz und Norwegen niederlassen. Allerdings: Sie müssen einen Arbeitsvertrag oder genügend finanzielle Mittel für den Lebensunterhalt nachweisen.
Fakt ist: Die britische Regierung will die Zahl der Einwanderer aus der EU senken. Vor allem die grösste Einwanderergruppe ist EU-Skeptikern ein Dorn im Auge: 2015 stammten 818‘000 Personen aus Polen. Die Briten befürchten die Konkurrenz um Arbeits- und Schulplätze sowie eine Überlastung des Gesundheitssystems.
Das Thema Einwanderung ist einer der Hauptgründe für die Bestrebungen, aus der EU auszutreten.
Welche politischen Folgen hätten ein Brexit für die EU?
Mit einem Brexit würde die EU auf einen Schlag 13 Prozent ihrer Einwohner verlieren. 17 Prozent ihrer Wirtschaftskraft würden wegbrechen. Für den Brüsseler SRF-Korrespondenten Sebastian Ramspeck ist klar: «Die EU würde um jeden Preis verhindern wollen, dass Grossbritannien der Austritt leicht gemacht wird. Die Botschaft wäre: Aus der EU austreten, das tut weh!»
Warum dieses Signal? «Das wäre vor allem eine Botschaft nach innen, an andere Mitgliedstaaten, die mit einem Austritt liebäugeln könnten», sagt Ramspeck. Denn das Risiko sei real. «Auf den Austritt Grossbritanniens könnten noch weitere folgen. Die EU würde um ihre Existenz kämpfen. Und: Es würde die EU vor die schwierigste Prüfung ihrer Geschichte stellen.» Nicht nur wirtschaftlich, auch geopolitisch würde die Union an Gewicht verlieren. Schliesslich hat Grossbritannien einen Sitz im UNO-Sicherheitsrat, eine schlagkräftige Armee und eine traditionsreiche Diplomatie.
Die Ausführungen von Sebastian Ramspeck machen klar. Ein Austritt Grossbritanniens wäre für die EU eine Katastrophe. Gibt es trotz allem einem Brexit nichts Positives abzugewinnen? «Es gibt vereinzelte Stimmen, die den Brexit als Chance sehen. Denn Grossbritannien war immer schon ein halbherziges EU-Mitglied, nicht Teil des Schengen-Raums, nicht Teil des Euro», sagt Ramspeck. Ohne Grossbritannien müsste die EU auf weniger Sonderwünsche Rücksicht nehmen. Sie wäre – vor allem in den Augen einiger französischer Politiker – kleiner, aber feiner.
Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein Brexit für die EU?
Mit einem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU würde die zweitgrösste Volkswirtschaft der Union wegbrechen. «Knapp ein Fünftel der Wirtschaftsleistung der EU entfällt auf Grossbritannien. Und mit London würde die EU den wichtigsten Finanzplatz der Welt verlieren», sagt Sebastian Ramspeck. Möglicherweise käme es nach einem Brexit zu heftigen Verwerfungen an den Finanzmärkten mit negativen Folgen für die gesamte Weltwirtschaft.
Was bedeutet dies für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung der EU? «Völlig offen. Das hinge auch davon ab, wie das Verhältnis zwischen der EU und Grossbritannien politisch und juristisch ausgestaltet würde», sagt Ramspeck. Bliebe Grossbritannien Teil des EU-Binnenmarkts, zum Beispiel als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums? Gäbe es eine andere Form der wirtschaftlichen Zusammenarbeit? «Darüber wird erst gesprochen, nachdem der Brexit beschlossen worden ist.»
Wie kann ein Staat aus der EU austreten?
Der Vertrag von Lissabon ist seit Dezember 2009 in Kraft. Der EU-Vertrag regelt in Artikel 50, Absatz 1 auch den Austritt eines Mitgliedstaats: «Jeder Mitgliedstaat kann (…) aus der Union austreten.» Grossbritannien müsste dann dem Europäischen Rat, also den Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedsstaaten, seine Absicht offiziell mitteilen.
Danach würden Verhandlungen aufgenommen – mit einem Verhandlungsführer an der Spitze. Hierzu heisst es im Lissaboner Vertrag: «Die Union handelt mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schliesst das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird.» Mindestens 15 Stimmen der 28 Staaten müssten dieses Abkommen beschliessen. Das Europäische Parlament hätte dabei ein Vetorecht.
Gleichzeitig hätte Grossbritannien das Recht, das Austrittsverfahren jederzeit abzubrechen und EU-Mitglied zu bleiben. Kann man sich innerhalb der nächsten zwei Jahre nicht auf ein Abkommen einigen, würde der Austritt Grossbritanniens auch ohne gültigen Vertrag wirksam. Dass die britische Regierung dies anstrebt, ist allerdings eher unwahrscheinlich. Allerdings: Ist sich der Europäische Rat mit Grossbritannien einstimmig einig, kann die Frist auch verlängert werden.