Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) überrannte im Juni vergangenen Jahres Mosul, die zweitgrösste Stadt Iraks. Wer konnte, flüchtete vor den Dschihadisten, so auch alle Christen der Stadt. Im nahe gelegenen Kurdengebiet fanden viele von ihnen Schutz vor Verfolgung. So ist im christlichen Quartier Ainkawa in Erbil, der Hauptstadt Kurdistans, eine bescheidene Infrastruktur entstanden.
Doch die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr der Christen nach Mosul schwindet, auch jene von Labib al-Katib. Der 34-Jährige hat in Mosul Ökonomie studiert und in Erbil gearbeitet. Zwischen den beiden Städten liegen keine einhundert Kilometer, doch seit letztem Sommer verläuft mitten durch die Tigris-Ebene die Front des Terror-Kalifats.
Die Saat des Extremismus geht auf
Labib lebte in Qaraqosh, einem Städtchen mit jahrhundertealter christlicher Tradition, nahe dem biblischen Niniwe – bis die Extremisten des IS kamen, ihre schwarzen Flaggen hissten und in den Kirchen die Kreuze herunterrissen.
Wenn Labib von seiner Studienzeit in Mosul spricht, klingt das wie aus einer anderen Welt. Damals pulsierte die Stadt, galt als offen und war ein Schmelztiegel der Kulturen. Die Einwohner Mosuls begegneten einander auf Augenhöhe und verstanden sich selbst als Iraker, erinnert sich Labib. Doch dann kam der Bruch. Die gleichen Leute begannen plötzlich, einander zu taxieren, verstanden sich nicht mehr als Iraker, sondern als Sunniten, Schiiten, Kurden, Christen oder Jesiden. Und sie sahen im andern den Feind.
Labib erzählt, wie sich so der Keim des Extremismus festsetzte. Am Anfang der Entwicklung steht nach Ansicht Labibs die amerikanische Invasion. Sie befreite Irak vom Joch der Diktatur Saddam Husseins. Aber sie zerstörte alle staatlichen Strukturen. Damit schuf sie ein politisches Vakuum im Irak, von dem die Extremisten profitierten.
Christen auf der Flucht vor den Dschihadisten
Als Mosul schliesslich kollabierte, war Labibs Heimat Qaraqosh ein erster Fluchtort für die Christen. Viele kamen nur mit dem an, was sie auf dem Leib trugen. Denn noch am Stadtrand von Mosul hatten ihnen die Dschihadisten alle Wertsachen abgenommen.
Doch zwei Monate später wurden die Menschen aus Qaraqosh selbst zu Vertriebenen. Die kurdischen Peschmerga vermochten Städte und Dörfer ausserhalb ihrer Autonomoiezone nicht zu schützen. Die Menschen strömten weiter über die Checkpoints Richtung Erbil. Auch Labib war dabei und brachte seine Eltern und Geschwister mit. Insgesamt mehr als eine Million Vertriebene haben seit dem Sturm des Islamischen Staats vor einem Jahr in der kurdischen Autonomiezone Schutz gesucht und gefunden.
Kaum Hoffnung auf eine Rückkehr
In Ainkawa, im christlichen Quartier von Erbil, übernachteten die Flüchtenden zunächst auf Strassen, in Parks und vor Kirchen, erzählt Labib. Doch nach einem Jahr gibt es langsam Alternativen wie etwa Gemeinschaftshäuser, wo Flüchtlinge leben, zwar sehr beengt, aber wenigstens mit einem Dach über dem Kopf.
Doch die meisten der Flüchtlinge möchten zurück in ihre Heimat. Aber von der einst gross angekündigten Rückeroberung Mosuls spricht heute niemand mehr. Denn die irakischen Regierungstruppen sind im Westen Iraks sogar noch weiter in die Defensive geraten.
Und nach einer allfälligen Rückkehr ist unklar, ob die eigenen Häuser noch stehen oder ob sie die IS zerstört hat. Oder gar von einem sunnitischen Nachbar geplündert wurde. Solche Berichte häuften sich, erzählt Labib.
Für ihn ist das ein weiteres Zeichen dafür, wie sehr die Saat der Extremisten aufgegangen ist. So dürfte es schwierig werden, je wieder zu gegenseitiger Toleranz zurückzufinden. Unklar ist, ob es überhaupt noch eine Zukunft für Christen im Irak ausserhalb der kurdischen Autonomiezone geben wird. «Nach Hause können wir nur, wenn wir als religiöse Minderheit auch akzeptiert sind», sagt Labib.