Aleppo. Den Namen der einst grössten syrischen Stadt verbinden die meisten Menschen mit Krieg, Zerstörung und Leid. Bilder von feiernden und im Luxus lebenden Leuten in ein und derselben Stadt wirken daneben schon fast verstörend. Zumindest für uns im Westen. In Syrien hingegen ist das nichts Neues.
Ein Land voll unvorstellbarem Leid
Schon immer war Syrien geprägt von grossen gesellschaftlichen Unterschieden, wie SRF-Nahostkorrespondent Pascal Weber erklärt. Seine Eindrücke stammen von mehrfachen Reisen in die von Präsident Baschar al-Assad kontrollierten Gebiete.
Der Krieg ist in Aleppo wie in ganz Syrien allgegenwärtig. «Man kann den Schrecken gar nicht genug drastisch zeigen. Das Leid und die Verzweiflung sind immens», stellt Weber von Vornherein klar. Gleichzeitig gebe es aber Leute, die ihren Reichtum geniessen können. Jedoch nur ein ganz kleiner Teil einer wohlhabenden Oberschicht. Sie leben ausschliesslich in von der Regierung kontrollierten Gebieten. Diese kleine regierungstreue Schicht, die den ganzen Reichtum unter sich aufteilt, gab es schon vor dem Krieg. Diejenigen, die verarmen, ebenso.
Nicht alle Quartiere vom Krieg betroffen
Aleppo ist seit dem Konflikt zweigeteilt. Auf der von der Regierung kontrollierten Seite sieht es sehr viel besser aus, als auf derjenigen der Gegner von Präsident Baschar al-Assad, weiss Weber. Es gebe hier ganze Quartiere, die vom Krieg nicht betroffen seien. Ganz einfach darum, weil nur Assad eine Luftwaffe besitzt. Und weil nur er, gemeinsam mit den Russen, die Gegend der Aufständischen aus der Luft angreift und Fassbomben abwirft. «Das Leben auf der Gegenseite von Assad ist unendlich viel schwerer», sagt Weber. Die tiefen, auch religiösen Gräben, die der Krieg gerissen hat, führen dazu, dass die Flucht auf die jeweils andere Seite für viele unvorstellbar geworden ist.
Die Menschen wissen wahrscheinlich gar nicht genau, wie es auf der jeweils anderen Seite aussieht.
Wahrscheinlich wüssten die Menschen auf den beiden Seiten gar nicht so genau, wie es auf der jeweils anderen Seite aussehe, meint der Nahostkorrespondent. Oder sie wollen es nicht wissen. «Zuerst einmal ist jeder mit seinem eigenen Überleben beschäftigt. Die andere Seite wird nur als Tod bringend angesehen.» Dass auf der Gegenseite auch Syrer kämpfen, glauben im Assad-Gebiet aber viele nicht. «Viele sind überzeugt, dass das keine Syrer sein können. Sie sind sich sicher, das alles müsse vom Ausland gesteuert sein.» Und dass die meisten syrischen Anwohner ohnehin bereits geflüchtet sind.
In einem Krieg steht letztendlich jeder sich selber am nächsten, das ist nicht nur in Syrien so.
Ein innerer Zwiespalt bei denjenigen, denen es gut geht, komme kaum an die Oberfläche, erklärt Weber weiter. Vielleicht denke man darüber nach, um es dann wieder zu verdrängen. Natürlich gebe es Leute, die spenden und helfen. Aber nur bis zu einem gewissen Grad. «In einem Krieg steht letztendlich jeder sich selber am nächsten, das ist nicht nur in Syrien so.»
Arabische Gesellschaften funktionieren anders
Ausgehend von unserer westlichen Vorstellung vom Staat als Solidaritätsgemeinschaft, sei dies nicht zu verstehen. Die Gesellschaften in der arabischen Welt funktionierten anders. Was hier zähle, sei der Zusammenhalt in der Familie, im Clan oder innerhalb der Religionsgemeinschaft. «Darüber hinaus geht die Solidarität im arabischen Raum nicht», erklärt Weber. «Arabische Staaten sind keine Solidaritätsgemeinschaften wie bei uns.»
Andererseits hält Weber aber auch fest, dass die Leute ein Recht darauf hätten, ihr Leben weiterzuführen. «Damit meine ich aber explizit nicht Söhne von Ministern oder Töchtern von Kriegsgewinnern. Doch in einem Krieg versuchen sich die Menschen immer, am normalen Leben festzukrallen.» In Kriegsgebieten treffe man nicht selten auf ein pulsierendes Nachtleben. «Wir dürfen nicht so plakativ denken wie <da ist der Krieg und dort ist der Luxus>», warnt er. «Alles, was man zeigt, kann immer nur ein Teil der ganzen Wahrheit darstellen.»
Von verängstigten Kindern – und solchen, die tanzen
Nichtsdestotrotz sei es als westlicher Beobachter schon oft schwer, die Gegensätze auszuhalten. «So werde ich etwa nie mehr vergessen, wie eine alte syrische Frau mit vier Kindern in ihrer 1-Zimmer-Wohnung sass und mir sagte, dass sie bei Bombenanschlägen nicht mehr tun kann, als den Kindern die Ohren zuzuhalten. Geht man dann in ein anderes Viertel und sieht die wohlhabenden Kinder tanzen, dann ist das schon schwierig», sagt Weber.
Die arabischen Gesellschaften bräuchten eine grundlegende gesellschaftliche Revolution, um diese Gegensätze zu überwinden. «Nur so haben sie Aussicht auf eine Zukunft.»