SRF News: Brüssel will der Türkei bis zu einer Milliarde Euro zukommen lassen. Damit sollen die zwei Millionen syrischen Flüchtlinge im Land unterstützt werden. Im Gegenzug hofft die EU, dass weniger Flüchtlinge nach Europa weiterreisen. Wie kommt das Angebot aus Brüssel in Ankara an?
Thomas Seibert: Offiziell gibt es noch keine Reaktionen. Es scheint aber, dass Ankara damit nicht besonders glücklich ist. Von türkischen Diplomaten ist zu vernehmen, dass die Regierung darüber enttäuscht ist, nicht in den Entscheidungsprozess eingebunden worden zu sein. Die EU weist der Türkei jetzt Geld zu und erwartet von Ankara im Gegenzug bestimmte Massnahmen – ohne je mit der Türkei darüber gesprochen zu haben. Der andere Punkt ist, dass ein grosser Teil dieser Milliarde Euro kein neues Geld ist. Es wurde der Türkei bereits im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses versprochen. Nun soll also Geld, das eigentlich in türkische Infrastrukturprojekte gesteckt werden sollte, für syrische Flüchtlinge ausgegeben werden. Das schmeckt hier Vielen nicht.
Die Türkei möchte schon länger, dass man in der EU umdenkt: So möchte sie für Flüchtlinge etwa legale Wege nach Europa öffnen. Welche Ideen hat die Türkei sonst noch?
Ankara wirft den Europäern vor allem vor, erst jetzt, da das Syrien-Problem vor der europäischen Haustür aufgetaucht ist, aufgewacht zu sein. Vier Jahre lang habe man die Türkei einfach damit alleingelassen. Andererseits wartet die Türkei weiter auf bessere Regeln für Türken im Reiseverkehr mit der EU, etwa die Abschaffung der Visa-Pflicht. Im Gegenzug wäre die Türkei bereit, ein sogenanntes Rückübernahme-Abkommen mit der EU zu schliessen. Damit würde die Türkei alle Flüchtlinge, die über türkisches Territorium in die EU geflüchtet sind zurücknehmen. Doch die Verhandlungen in dem Bereich sind noch lange nicht am Ziel.
Die türkische Bevölkerung hat die vielen syrischen Flüchtlinge lange mit offenen Armen aufgenommen und sie gut versorgt. Wieso wollen jetzt so viele Syrer nach Deutschland oder Schweden weiterreisen?
Ein Grund, den die türkische Regierung immer wieder hervorstreicht, ist die Sogwirkung durch die Angebote von Deutschland und anderen grossen EU-Staaten, syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Ein anderer Grund ist, dass die Türkei den syrischen Flüchtlingen im Land keine Perspektive bietet. Syrer werden hier nicht offiziell als Flüchtlinge anerkannt, sie gelten als Gäste. Sie haben keine Berechtigung zu arbeiten und nur einen beschränkten Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem. Nach vier Jahren Bürgerkrieg sehen viele Syrer in der Türkei einfach keine Zukunft mehr für sich und ihrer Familien. Deshalb wollen sie nach Europa.
Ermuntert die Türkei angesichts des immer neuen Zustroms an syrischen Flüchtlinge diese, nach Europa weiterzureisen oder setzt die Türkei wie früher alles daran, dass sie im Land bleiben?
Die Türkei ermuntert die Flüchtlinge keineswegs, nach Europa weiterzuziehen. Die türkische Küstenwache hat im laufenden Jahr bereits 50'000 Menschen aus der Ägäis gefischt, die auf dem Weg nach Griechenland waren. Das hätte sie nicht getan, wenn die Türkei diese Leute loswerden wollte. Auch an der Landesgrenze zu Bulgarien gibt es zurzeit Spannungen, weil dort mehrere hundert Syrer sitzen, die über Bulgarien nach Deutschland weiterreisen wollen. Das lassen die Türken aber nicht zu. Man kann also nicht sagen, dass die Türkei versucht, die Flüchtlinge in Richtung Europa loszuwerden. Allerdings ist klar: Die bisherige türkische Politik, die Syrer als vorübergehende Gäste zu behandeln, funktioniert nicht mehr. Da muss sich die Türkei etwas ganz Neues überlegen.
Das Gespräch führte Ursula Hürzeler.