Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat in seiner politischen Laufbahn schon viel erlebt. Ein offener Putsch ist aber auch für Erdogan ein Novum. Bislang hat noch kein Kontrahent den Präsidenten stoppen können, aus jeder Krise ging der heute 62-Jährige am Ende gestärkt hervor.
Gewählt in erster Wahlrunde
Bislang kennt die Karriere des Ausnahmepolitikers mit der schier unbändigen Energie nur eine Richtung: steil nach oben. 1994 wurde der aus dem Istanbuler Arbeiter- und Armenviertel Kasimpasa stammende Politiker Bürgermeister seiner Heimatstadt. 2001 gehörte er zu den Mitbegründern der AKP, die schon im Jahr darauf bei der Parlamentswahl die absolute Mehrheit errang. 2003 wurde Erdogan Ministerpräsident – und führte die AKP danach von Wahlsieg zu Wahlsieg.
Den vorläufigen Höhepunkt erlebte Erdogans Laufbahn vor knapp zwei Jahren: Nach einer von seiner islamisch-konservativen Partei angestossenen Reform wählten die Türken erstmals ihr Staatsoberhaupt direkt. Der Sieger in der ersten Wahlrunde: Erdogan.
Verglühter Hoffnungsträger des Westens
Jahrelang war Erdogan auch ein Hoffnungsträger des Westens. Er trieb die Demokratisierung der Türkei voran, die wirtschaftlich immer stärker wurde. Die EU nahm Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf. Erdogan stiess einen Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK an. Und während weite Teile der Region im Chaos versanken, schien Erdogan zu beweisen, dass Islam und Demokratie im Nahen Osten kein Widerspruch in sich sein müssen.
Doch vom Glanz ist wenig übrig geblieben. Die regierungskritischen Gezi-Proteste im Sommer 2013 liess Erdogan niederknüppeln. Die Wirtschaft lahmt, der EU-Beitrittsprozess kommt kaum voran. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt die Türkei auf Platz 151 von 180.
Erdogan spaltet Volk
Der wieder aufgeflammte Konflikt mit der PKK – Kritiker werfen Erdogan vor, ihn angeheizt zu haben – trägt im Südosten des Landes inzwischen Züge eines Bürgerkrieges. Und der Konflikt hat die Metropolen Istanbul und Ankara erfasst. Dort haben eine PKK-Splittergruppe und die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in den vergangenen Monaten zahlreiche schwere Anschläge verübt.
Bei seinem Amtsantritt als Präsident hatte er eine «neue Türkei» versprochen und an die Adresse seiner Gegner versöhnliche Signale ausgesandt. «Lasst uns die alten Auseinandersetzungen in der alten Türkei zurücklassen», sagte er damals. Stattdessen sind die Gräben heute tiefer denn je. Mit seinem zunehmend autoritären Kurs hat Erdogan das Volk zutiefst gespalten.
Krönung kommt noch
Geht es nach Erdogan, steht ihm die Krönung seiner Karriere noch bevor – und der gescheiterte Putschversuch dürfte ihm dabei helfen. Erdogans grösstes Ziel ist die Einführung eines Präsidialsystems, an deren Spitze er die Türkei in den 100. Geburtstag der Republik im Jahr 2023 führen will. Er argumentiert, ein solches System würde dem Land dringend benötigte Stabilität verschaffen. Seine Kritiker sehen das ganz anders: Sie befürchten, Erdogan würde dann zum Diktator.