Die Offensiven der Anti-IS-Kräfte auf die irakische Stadt Mossul und die syrische Stadt Rakka sind in vollem Gange. Über kurz oder lang dürfte der «Islamische Staat» die Herrschaft über beide Städte verlieren – wenn auch zu einem hohen Preis. Das zumindest glauben viele Beobachter.
Doch dies werde nicht das Ende des IS sein, ist der Nahost-Kenner und langjährige Korrespondent Yassin Musharbash überzeugt. Die Terrormiliz sei seit Monaten daran, sich dezentral ins syrisch-irakische Halbwüstengebiet zurückzuziehen.
SRF News: Wie weit wird der IS gehen, um seine Hochburg in Syrien, Rakka, zu verteidigen?
Yassin Musharbash: Der IS wird – wie in Mossul – versuchen, dass der Blutzoll für die Angreifer möglichst hoch sein und die Schlacht möglichst lange dauern wird. Doch auch mit der Eroberung von Rakka wird nicht der letzte IS-Kämpfer ums Leben gekommen sein. Vielmehr plant der IS bereits jetzt für den Tag danach.
Was meinen Sie damit?
Den IS gibt es schon einige Zeit – wenn man all seine Vorläufer-Organisationen mitzählt. So betrachtet hat die Terrororganisation in den vergangenen Jahren immer wieder Städte beherrscht und wieder verloren; trotzdem gibt es sie immer noch. Der IS hat gelernt, in der Halbwüste Syriens und Iraks quasi mit der Bevölkerung zu verschmelzen. So können die Kämpfer unerkannt untertauchen und «überwintern» bis die Umstände für sie wieder günstiger sind. Dafür hat der IS bereits jetzt vorgesorgt: Bestimmte Regionen und Orte wurden ausgewählt, in die sich der IS mit den überlebenden Kämpfern zurückziehen will. Dies schliesse ich aus all den Gesprächen, die ich hier im Nahen Osten geführt habe.
Es gehört zur DNA des IS, dass er sich zusammenziehen und wieder ausbreiten kann.
Sollte Rakka also wirklich fallen, wäre dies zwar eine Schwächung des IS, würde aber nicht sein Ende bedeuten?
Ganz genau. Das gilt auch für Mossul. Beide Städte sind zwar die wichtigsten Zentren des IS. Sowohl Rakka wie Mossul sind von grosser symbolischer Bedeutung für den IS und das Kalifat, das er aufgebaut hat. Ihr Verlust wäre schmerzhaft und dramatisch für die Terrororganisation – schliesslich hat sie die Ausrufung des Kalifats mit dem grossen Gebiet begründet, das sie damals eingenommen hatte. Verliert der IS nun einen Grossteil dieser Regionen, bringt ihn das in Schwierigkeiten. Trotzdem wird das nicht sein Ende sein. Er stand schon 2010 am Punkt, dass er auf wenige hundert Kämpfer zusammengeschmolzen und nahezu aufgerieben worden war. Trotzdem nahm er vier Jahre später Mossul ein. Es gehört zur DNA dieser Organisation, dass sie sich zusammenziehen und auch wieder ausbreiten kann. Der IS hat denn auch kaum etwas mit einer regulären Armee westlichen Musters zu tun.
Der IS wird also versuchen, sich zurückzuziehen und in einiger Zeit gestärkt wieder zurückzukehren?
Genau. Der IS hat die Rückzugsorte bereits vorbereitet. Das Ganze dauert schon Monate. Aus einem syrischen Dorf habe ich etwa die Informationen, dass dort schon vor Monaten gegen 3000 IS-Kämpfer zusammengezogen wurden. Offenbar bereiten sie sich sogar darauf vor, dort noch mehr Leute unterzubringen. So wird aus einem Dorf, das der IS früher einmal eingenommen hat, nach und nach ein neuer Stützpunkt.
Müsste man angesichts dieser Ausgangslage nicht die Strategie gegen den IS ändern? Müsste man nicht verhindern, dass neue IS-Zentren entstehen, anstatt Rakka und Mossul anzugreifen?
Es ist richtig, den IS in Mossul und Rakka anzugehen. Doch das angekündigte Ziel – die Vernichtung des IS – ist falsch. Primäres Ziel müsste sein, die Menschen zu befreien, die seit mehr als zwei Jahren unter der Herrschaft des IS in diesen Städten leben müssen. Es geht schliesslich um hunderttausende Menschen, die ein Recht darauf haben, dass wir sie nicht vergessen. Ausserdem sollte das Ziel lauten, den Nimbus des IS zu brechen. Die Vernichtung des IS dagegen wird uns noch sehr viel länger beschäftigen, als die Waffengänge in Mossul und Rakka. Mit Sicherheit wissen das auch die Militärs, die von der Vernichtung des IS sprechen. Doch das ist wohl Teil der Propaganda rund um eine solche Offensive.
Das Gespräch führte Melanie Pfändler.