SRF Online: Die türkische AKP hat den bisherigen Aussenminister Ahmet Davutoglu am Donnerstagabend als Partei- und Regierungschef nominiert. Steht er damit bereits fest als nächster türkischer Ministerpräsident?
Yunus Ulusoy: Sollte ihn die AKP nominieren, ist die Wahl zum Nachfolger Recep Erdogans nur noch eine Formsache: Die AKP verfügt im Parlament über eine absolute Mehrheit.
Erdogan hat in den letzten Jahren einen zunehmend autoritären Regierungsstil gepflegt. Wird sich das unter Davutoglu ändern?
Das wird sich erst noch zeigen müssen. Sicher ist aber, dass Davutoglu vom Typ her ein anderer Mensch ist als Erdogan. Dieser ist ein Vollblutpolitiker, der sich schon seit seiner Jugend in einer national-religiösen Bewegung engagierte. Davutoglu hingegen ist Akademiker. Er hat an einer renommierten Universität studiert, hat als Professor gelehrt und spricht Englisch.
Sie erwarten also einen weniger aufgeregten Politikstil?
Davuotglu ist ein ruhigerer Mensch als Erdogan, ja. Und er ist auch weniger demagogisch, er polarisiert weniger. Dadurch, dass er Fremdsprachen spricht und als Aussenminister viel gereist ist, müsste er die Welt anders deuten können als Erdogan.
Böse Zungen sagen, Davutoglu werde nicht viel mehr sein als Erdogans Handlanger. Wird Erdogan im Hintergrund weiterhin die Fäden ziehen?
Es spricht zumindest einiges dafür, dass Davutoglu Erdogans Linie weiterverfolgen wird. So verdankt er seine politische Karriere Erdogan, der ihn 2009 zum Aussenminister gemacht hat. Zudem verfügt er in der Partei über keine eigene Machtbasis. Auf der anderen Seite kommt es immer wieder vor, dass politische Ziehsöhne rebellieren und ihre eigene Linie verfolgen, wenn sie erst einmal an der Macht sind. Wie gross Davutoglus Spielraum ist, hängt stark davon ab, wie fest sich Erdogan ins Tagesgeschäft einmischen wird. Bei seiner Wahl zum Staatspräsidenten hat Erdogan versprochen, ein Präsident für alle Türken zu sein. Gleichzeitig hat er mehrmals gesagt, er wolle ein «aktiver» Staatspräsident sein. Noch ist nicht klar, wie das eine mit dem anderen zusammen geht.
Davutoglu hat Erdogan für dessen autoritäres Auftreten nie kritisiert.
Der bisherige türkische Staatspräsident, Abdullah Gül, hat Erdogan wiederholt für seinen autoritären Politikstil kritisiert – etwa während der Proteste im Gezi-Park. Wie hat sich Davutoglu zu den Protesten geäussert?
Gar nicht. Davutoglu war nicht sichtbar – weder während der Proteste im Gezi-Park, noch während der Korruptionsaffäre im Dezember, noch während Erdogans Kampf gegen die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen. Erdogan hat diese Kämpfe alleine ausgetragen.
Wie ist Davutoglus Zurückhaltung zu interpretieren?
Wenn er im selben Kabinett sitzt wie Erdogan und sich nicht anderweitig äussert, so ist das als stille Zustimmung zu deuten. Gleichzeitig war Davutoglu während dieser Zeit sehr mit den vielen aussenpolitischen Fronten beschäftigt, die sich auftaten.
Davutoglu steht hinter der Neuausrichtung der türkischen Aussenpolitik – weg von Europa und hin zu den Nachbarländern der Türkei. Was hat Davutoglu vorzuweisen in seinen fünf Jahren als Aussenminister?
Die Bilanz ist eher ernüchternd – was aber nicht alleine die Schuld von Davutoglu oder Erdogan ist. Vielen Entwicklungen in den Nachbarländern steht die Türkei machtlos gegenüber. Im Falle von Syrien hatte die Türkei mit Baschir al-Assad relativ gute Beziehungen aufgebaut, nachdem das Verhältnis während der Regierungszeit von Assads Vater sehr gespannt gewesen war. Dennoch hat sich die die Türkei schon zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs für eine militärische Intervention eingesetzt, was Europa und die USA aber ablehnten.
Wie steht es um die Beziehungen zu Iran und Irak?
Im Falle von Iran hatte sich die Türkei als Vermittler zwischen Washington und Teheran bemüht. Die Gespräche waren nicht sehr erfolgreich, was aber wenig mit der Türkei zu tun hatte: Unter den Regierungen Bush und Ahmedinejad war ein solcher Versuch zum Scheitern verurteilt. Im Irak wiederum hat Ankara es geschafft, zu den Kurden gute Beziehungen aufzubauen. Und das, obwohl eine Stärkung der kurdischen Regierung im Irak früher als rote Linie galt: Man hatte Angst, damit die Kurden im eigenen Land zu ermutigen, welche die Unabhängigkeit anstreben.
Es wäre jedoch falsch, diese aussenpolitischen Entscheide alleine Davutoglu zuzuschreiben. Letzten Endes hat er nur ausgeführt, was Ministerpräsident Erdogan ihm aufgetragen hat – so wie das Aussenminister überall auf der Welt machen. Wenn Davutoglu nicht dieselben Ansichten hätte wie Erdogan, wäre er erst gar nicht Aussenminister geworden. Zudem ist Davutoglu erst seit 2009 Aussenminister, Erdogan aber seit 2003 Ministerpräsident.
Wird sich die Türkei unter einem Ministerpräsidenten Davutoglu wieder an Europa annähern?
Die Chancen dafür stehen gut. Als Akademiker lässt sich Davutoglu mehr vom Verstand als von den Emotionen leiten – ganz anders als Erdogan. In Europa ist Politik ebenfalls eher rational geprägt. Davutoglu könnte helfen, die Türkei wieder näher zu Europa zu rücken. Dass das eine Notwendigkeit ist, haben nicht zuletzt die Krisen in den Nachbarländern der Türkei gezeigt. Die verfahrene Situation in Syrien und im Irak macht deutlich, dass sich die Türkei eine Situation als Peripherie-Staat zwischen Europa und dem Nahen Osten nicht leisten kann. Und letztendlich decken sich die Interessen zwischen der Türkei und Europa weit mehr als zwischen der Türkei und seinen östlichen Nachbarn, oder zwischen der Türkei und Russland.
Das Interview führte Camilla Alabor.