Die Herren François Georges-Picot und Sir Mark Sykes sind auch fast 100 Jahre nach ihrer wohl folgenreichsten Entscheidung im Nahen Osten berühmt-berüchtigt. Im Herbst 1915 beugten sich der französische Diplomat und sein britischer Verhandlungspartner über Karten der arabischen Welt.
Während das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg vor dem Zusammenbruch stand, teilten sie am grünen Tisch die Einflusssphären der beiden Grossmächte im Osten der Region auf. So legte das geheime Sykes-Picot-Abkommen auch die Basis für die spätere Gründung der Nationalstaaten Syrien und Irak – Länder, die praktisch per Federstrich geschaffen wurden.
100 Jahre später wird deutlich, welche langfristigen Auswirkungen die eigenmächtige Entscheidung hat. Die sunnitische Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) hat ihren Vormarsch in Syrien und im Irak zu einem Kampf gegen die vom Westen geschaffenen Grenzen erklärt. Vor kurzem verbreiteten die Extremisten im Internet ein 15 Minuten langes Video. Titel: «Das Ende von Sykes-Picot». «Wir werden die Grenze (zwischen Syrien und dem Irak) niemals anerkennen», erklärt ein bärtiger IS-Kämpfer in dem Film.
Gemeinsamkeiten der Konflikte
Nicht nur in Syrien und im Irak nimmt die Gewalt kein Ende. Auch in Libyen und im Jemen sterben fast täglich Menschen. Seit zwei Wochen bekriegen sich Israelis und Palästinenser erneut. Eins ist den Konflikten gemeinsam: Sie drehen sich um Grenzen und staatliche Ordnungen, die im 20. Jahrhundert geschaffen wurden, meistens unter massgeblichem Einfluss des Westens. Verschärft werden sie in den meisten Ländern durch zwei Faktoren: konfessionelle Gegensätze, die Politiker im eigenen Interesse schüren, und schwache Regierungen, die ihr Staatsgebiet nicht mehr kontrollieren können.
Als schlimmes Beispiel dafür steht der Irak. Das Land ist de facto bereits geteilt. IS-Kämpfer haben sich mit Stämmen und Anhängern des früheren Machthabers Saddam Hussein verbündet. Dieses sunnitische Bündnis kämpft gegen die von Schiiten dominierte Regierung und deren Armee. Im Irak rächt es sich, dass sich in dem Land nie eine starke nationale Identität entwickelt hat. Auch die Kurden im Norden streben einen eigenen Nationalstaat an und wollen sich abspalten.
Fatale Entscheidungen
Dass der Konflikt starke konfessionelle Züge trägt, ist weniger eine Folge religiöser Gegensätze als vielmehr ein Ergebnis fataler Entscheidungen nach dem Sturz Saddams 2003. Unter dem früheren Machthaber dominierten die Sunniten Politik und Gesellschaft, obwohl eigentlich die Schiiten die Mehrheit im Land stellen.
Nach Saddams Ende kamen die Schiiten an die Macht und setzten einen «Frieden der Sieger» durch, wie es der britische Irak-Experte Toby Dodge nennt. Sunniten wurden aus allen wichtigen Positionen in Staat und Armee entfernt. Zehntausende waren plötzlich arbeitslos. Aus diesem riesigen Reservat der Geschassten und Unzufriedenen rekrutieren sich heute die Unterstützer der IS-Terrorgruppe.
Lage in Syrien
Auch der Konflikt in Syrien, der einst als Aufstand gegen Präsident Baschar al-Assad begann, hat längst starke konfessionelle Züge angenommen. Das Assad-Regime wird dominiert von der Minderheit der Alawiten, einer Abspaltung der Schiiten. Vor allem die Regierung versucht, den Konflikt als Überlebenskampf gegen sunnitische «Terroristen» darzustellen. Aber auch die radikalen Islamisten unter den Regimegegnern haben den Aufstand zu einem Feldzug gegen die schiitischen «Assad-Banden» erklärt - zum Leidwesen der gemässigten Oppositionellen, denen es um mehr Freiheit und Demokratie geht.
Lage in Jemen
Ein starker Drang zu Separatismus plagt auch den Jemen rund 3000 Kilometer südlich von Damaskus. Im Norden des Landes haben sich schiitische Houthi-Rebellen bereits vor zehn Jahren gegen die Zentralregierung in Sanaa erhoben. Mit Beginn des Aufstands gegen den mittlerweile gestürzten Langzeitpräsidenten Ali Abdullah Saleh flammte der Konflikt wieder auf. Politische Gegner werfen den Houthis vor, sie wollten im Norden des Jemen eine Theokratie schaffen.
Lage in Libyen
In Libyen treiben seit dem Sturz von Langzeitherrscher Muammar al-Gaddafi bewaffnete Milizen und Separatisten ihr Unwesen. Sie bekämpfen sich oft gegenseitig, ihre Ziele sind häufig unklar. In dem erst 1951 unabhängig gewordenen Nationalstaat Libyen ist der Zusammenhalt der Landesteile schwach. Vor allem aus der Cyrenaika, dem ölreichen Osten, sind Rufe nach Autonomie zu hören.
Bei keinem der Konflikte besteht die Hoffnung, dass sie in naher Zukunft gelöst werden können.