Im Januar 1933 ergreift Adolf Hitler in Deutschland die Macht. Es setzt ein Massenexodus von Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten, engagierten Christen, Intellektuellen und Künstlern aus Deutschland ein. Dies stellt die Schweiz vor noch nie dagewesene Probleme.
Angst, Restriktion und der J-Stempel
In der Folge schliesst die Schweiz ihre Grenzen. Die Politik gegenüber jüdischen Flüchtlingen und politischen Verfolgten wurde restriktiver. Die Schweiz sah sich während des Zweiten Weltkriegs als Erstaufnahme- und Transitland.
Um die Flüchtlinge zur Weiterreise zu bewegen, durften sie keinem Erwerb nachgehen. Mit dem Anschluss Österreichs und den Pogromen vom November 1938 stieg insbesondere die Zahl jüdischer Flüchtlinge stark an.
Zuerst führten die Schweizer Behörden die Visumspflicht für alle deutschen Staatsangehörigen ein. Die deutschen Behörden befürchteten aber, dass andere Staaten dem Schweizer Beispiel folgen könnten und damit der Reiseverkehr mit dem Ausland eingeschränkt wurde. In Verhandlungen schlug Berlin vor, nur die Pässe der deutschen Juden zu kennzeichnen. Die Schweizer Delegation hatte diesbezüglich rechtliche und ethische Bedenken gegen Massnahmen, die nur gegen Juden gerichtet waren. Doch aus wirtschaftlichen und aussenpolitischen Gründen akzeptierte der Bundesrat den deutschen Vorschlag und widerrief die Visumspflicht. Im Gegenzug machte sich Deutschland unverzüglich daran Pässe deutscher Juden zu kennzeichnen – mit dem sogenannten Judenstempel. Im August 1942 kam der Entscheid, Flüchtlinge aus «Rassengründen» seien grundsätzlich wegzuweisen.
Allerdings: Zu dieser Zeit war die Gefährdung der Juden im Nazireich längst bekannt. Erst gegen Ende 1943, als sich die Niederlage der Achsenmächte abzeichnete, lockerten die Behörden schrittweise ihre restriktive Politik. Nicht alle waren mit dieser unmenschlichen Flüchtlingspolitik einverstanden.
Wer waren die Fluchthelfer?
Polizeikommandanten, Wissenschaftler, Diplomaten oder Arbeitslose: «Ein eigentliches Profil eines Fluchthelfers lässt sich nicht erstellen», sagte Gregor Spuhler in einem Interview 2014 mit SRF News. «Sie stammen aus allen sozialen Schichten.» Spuhler ist Leiter des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich. Von 1997 bis 2000 war er Mitglied der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg.
Der Archivleiter teilt die Fluchthelfer in zwei Kategorien ein – in Bezug auf ihre Motive: «Die einen waren sogenannte Passeure». Das waren Schmuggler, meist Personen aus armen Verhältnissen, beispielsweise Fischer. Sie erhofften sich so einen Nebenverdienst.
Der Lohn dafür sei aber eher bescheiden ausgefallen, sagt Spuhler. Ertappte dagegen wurden verhältnismässig hart bestraft – mit bis zu einem halben Monatslohn oder mehreren Dutzend Tagen Haft.
«Andere handelten aus Solidarität mit den verfolgten Gruppen, denen sie sich zugehörig fühlten», so Spuhler weiter: Juden, Katholiken, Protestanten, Kommunisten oder Sozialdemokraten.
Bekannte Fluchthelfer
Viele dieser Personen sind namentlich nicht bekannt – bis auf einige wenige Ausnahmen: «Er rettete vor dem Zweiten Weltkrieg vielen verfolgten Menschen das Leben».
Dies steht auf einer schlichten Tafel. Wem ist sie gewidmet? Mit dieser Tafel ist der Sankt Galler Polizeikommandant und Flüchtlingsretter Paul Grüninger (1891-1972) in einem feierlichen Akt rehabilitiert worden – von seinem ehemaligen Arbeitgeber.
Grüningers Tochter Ruth Roduner (93) enthüllte die Gedenktafel im vergangenen Jahr beim Eingang zum Polizeikommando. «Paul Grüninger sollte uns allen ein Vorbild sein», so die Worte des Sankt Galler Justiz- und Polizeidirektor Fredy Fässler. Der Kanton St. Gallen dürfe stolz sein auf seinen ehemaligen Polizeikommandanten. Das war nicht immer so.
«Grüninger war als Polizeikommandant der einzige Fluchthelfer mit solch einem bedeutenden Rang innerhalb der öffentlichen Verwaltung». Vergleichbar sei er allenfalls mit dem Diplomaten Carl Lutz. Er rettete während des Zweiten Weltkriegs Zehntausende von ungarischen Juden vor dem sicheren Tod. Lutz arbeitete als Vizekonsul in der Schweizer Botschaft in Budapest.
Wenn ein Diplomat die Kompetenzen überschreitet
Seine humanitäre Aktion gilt als grösste zivile Rettungsaktion während des Holocausts. Der eher ängstlich und schwächlich veranlagte Lutz riskiert während seiner Schutzaktion mehrmals sein Leben, indem er und seine Frau Gertrud sich zwischen bedrohte Juden und ihre faschistischen Häscher stellen.
Doch statt des Danks der Heimat erwartet ihn dort eine Rüge wegen Kompetenzüberschreitung und Spesenrittertums. Seine Berichte über seine Rettungsaktion werden von seinen Vorgesetzten ignoriert, er selbst wird in subalterne Stellung im Aussenministerium abgeschoben.
Im Ausland wird die Leistung von Carl Lutz dagegen schnell anerkannt. Israel ernennt ihn nach Kriegsende als ersten Schweizer zu einem «Gerechten unter den Völkern». Die Bundesrepublik Deutschland verleiht ihm ihre höchste Auszeichnung, das Grosse Bundesverdienstkreuz.
Verbittert und enttäuscht
Die Vereinigten Staaten ehren ihn bereits drei Jahre nach dem Krieg mit der «Liberty Medal» für besonderen Mut. In der Schweiz wird Lutz zu Lebzeiten jede Anerkennung offiziell bleiben. Mit einer Ausnahme: 1963 ernennt ihn seine Heimatgemeinde Walzenhausen in Appenzell Ausserrhoden zu ihrem Ehrenbürger. Bis zu seinem Tod wird Lutz verbittert und vergeblich für seine Rehabilitierung kämpfen.
Erst 1995 – 20 Jahre nach seinem Tod – wird Carl Lutz zusammen mit dem Sankt. Galler Polizeikommandant Paul Grüninger von Parlament und Bundesrat offiziell rehabilitiert.
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