Zwei Jahre lang, seit der russischen Invasion auf der Krim, hat man sich im Nato-Hauptquartier ganz auf Moskau konzentriert. Mit weitaus mehr militärischer Präsenz in Osteuropa, weitaus mehr Manövern, einer weitaus schärferen Tonart.
Doch jetzt, vor dem Nato-Gipfel in Warschau, gilt das Augenmerk mindestens ebenso sehr dem Süden, sagt Nato-Mann Jamie Shea. Die Nato müsse ausbalancierter werden. Sie müsse den Gefahren, die aus dem Süden drohen, künftig ebenso grosses Gewicht beimessen wie den Gefahren aus dem Osten.
Bedrohungen nicht mehr nur klassisch-militärisch
Das sind neue, überraschende Töne. Zumal der 62-jährige Brite Shea nicht irgendwer ist in der Nato-Zentrale. Er ist ein Schwergewicht, seit 30 Jahren dabei. Und er hatte zahllose Schlüsselfunktionen inne, vom Chefsprecher über den Cheflobbyisten bis zum Chefplaner und Vordenker. Zurzeit kümmert er sich darum, das Bündnis für neue, nicht klassisch-militärische Bedrohungen zu wappnen.
Shea stellt fest: Die Nato-Mitglieder im Süden fühlten sich ebenso bedroht wie jene im Osten. Durch den Krieg in Syrien, das Chaos in Libyen, im Jemen, im Sahel, durch Terrorismus, Migrantenströme und mehr. Verglichen damit sei die Lage an der Ostflanke im Moment fast schon stabil. Zwar unbefriedigend, aber berechenbar.
Die Nato arbeitet deshalb jetzt unter Hochdruck an einer Südstrategie. Dort, im Süden, gibt es grosse Defizite in der Allianz, die historisch durch den Ost-West-Gegensatz geprägt ist. Allerdings hat das Militärbündnis nicht die Musse, sich ganz dem Süden zu widmen.
Anders als früher kommen die Aufgaben nicht schön eine nach der anderen; erst Russland, dann Afghanistan, dann Libyen. Jetzt kommen alle Aufgaben gleichzeitig. So bleibt Moskaus Verhalten ein Problem. Der Afghanistan-Einsatz geht weiter. Die Libyen-Operation schuf mehr Probleme als sie löste. Der Terrorismus, die Cyberattacken – all dem müsse sich die Nato jetzt stellen, sagt Shea.
Die Nato soll vermehrt mit der EU kooperieren
Will die Nato den Gefahren aus dem Süden begegnen, müsse sie zweierlei tun: «Erstens muss sie endlich enger mit der EU zusammenarbeiten», so Shea. Die EU ist im Mittelmeerraum zurzeit politisch aktiver und präsenter als die Nato. Bisher war das Verhältnis zwischen den beiden schwierig, distanziert, oft von Rivalität geprägt.
Shea räumt unumwunden ein: «Da lässt sich einiges besser machen.» Und vor allem: Die Nato ohne die EU bringt zu wenig Gewicht auf die Waage. Weshalb nun das Verhältnis der beiden Organisationen – ja sogar eine Art formelle Partnerschaft von Nato und EU – auf dem bevorstehenden Gipfel ganz oben auf der Agenda steht.
Vorläufiges Hinnehmen der Krim-Annexion
Um den Gefahren aus dem Süden zu begegnen, müsse die Nato zweitens im Osten für Entspannung sorgen, fährt Shea fort. Das heisst: Für die Nato bleibt die russische Annexion der Krim inakzeptabel. Aber man akzeptiert sie de facto und vorläufig. Denn man muss und will zu einem konstruktiveren Verhältnis zu Russland zurückkehren. Nicht nur mit den Freunden, auch mit den Gegnern müsse man reden. Deshalb soll schon sehr bald der Nato-Russland-Rat wieder tagen.
Die Nato legte den Rat nach der Krim-Invasion auf Eis. Themen gibt es für den Rat genug: vertrauensbildende Massnahmen, Transparenz, Rüstungskontrolle. Wenn man wieder zusammensitze, müsste aber beiden Seiten, Russland und der Nato, klar sein: Es müsse mehr drinliegen als bloss gegenseitige Vorwürfe. Allein schon, um zu verhindern, dass die vielen Militärmanöver nicht unversehens und ungewollt in einen Ost-West-Krieg münden.
Russischer General beantwortete Nato-Anruf nicht
Und dass nicht wieder passiert, was derzeit in Nato-Kreisen irritiert herumgeboten wird: Dass nämlich in einer kritischen Situation – gemeint ist wohl der kürzliche Abschuss eines russischen Flugzeugs durch die Türken – ein Nato-General in Moskau anrief und sein russischer Gegenpart nicht mal ans Telefon ging.
Die Nato versteht den Versuch, wieder mit Russland ins Gespräch zu kommen, nicht als Zeichen der Schwäche. Man müsse, so Shea, Moskau klarmachen, wo die roten Linien verliefen: nicht in der Ukraine, nicht in Georgien, nicht in Moldawien. Wohl aber an der Nato-Ostgrenze. Damit Präsident Wladimir Putin nicht im Traum daran denkt, Nato-Mitgliedsländer zu destabilisieren oder gar anzugreifen.
Mit Russland reden, aber auch Russland die Stirn bieten – so lautet die neue Devise. Und bereits ist wieder von der Hoffnung die Rede, irgendwann doch mit Moskau einer echte strategische Partnerschaft einzugehen. Shea sagt wohl zu Recht: nicht jetzt, aber eines Tages.