SRF News: Wie reagieren türkische Kulturschaffende auf das Ja zur Verfassungsreform?
Luise Sammann: Es herrscht vor allem Ernüchterung. In den intellektuellen Kreisen in der Türkei war das Nein-Lager gross, und dementsprechend enttäuscht ist man vom Ergebnis. Gleichzeitig bewirkt das knappe Ergebnis interessanterweise eine Art Motivationsschub: Die Leute sagen sich nicht, sie hätten sowieso keine Chance, sondern, dass offensichtlich viele ihre Meinung teilen. Für diese Menschen lohnt es sich also, zu demonstrieren.
Kritische Kulturschaffende spüren seit Monaten die Repression. Welches sind die Folgen?
Die Repression wird immer deutlicher, und zwar nicht nur direkt, sondern als insgesamt düstere Stimmung, die inzwischen in der Türkei herrscht. Die Gesellschaft steckt in einer Depression. Vor einigen Wochen habe ich mit einem Gesellschaftspsychologen gesprochen. Er sagte, die Gesellschaft hier sei kollektiv depressiv und therapiebedürftig.
Die türkische Gesellschaft steckt in einer Depression.
Wenn man zu Ausstellungseröffnungen oder Filmgalas geht, fehlt dort die Ausgelassenheit. Die Kulturschaffenden haben ein Misstrauen und Fragezeichen in den Augen, wie es weitergeht mit diesem Land und wie lange und wie frei sie hier überhaupt noch arbeiten können. So geht die Energie, die Istanbul als Kulturstadt einst ausgemacht hat, verloren.
Gibt es weitere Folgen der Repression?
Es existiert ein indirekter Druck, den die Kultur hier ganz deutlich spürt. Dies deshalb, weil die türkische Kulturszene stark mit der Privatwirtschaft verbandelt ist und von dieser finanziert wird.
Es entsteht eine Art Selbstzensur.
Da sich die Wirtschaft in einem Staat, der inzwischen derart autoritär geführt wird, nicht mit der Regierung anlegen möchte, verzichtet sie darauf, kritische Künstler und Projekte zu fördern. Es entsteht eine Art Selbstzensur: Die Organisatoren und die Finanzierenden wollen keine kritische Kultur mehr haben, schon bevor der Staat überhaupt eingreift.
Organisieren sich Künstlerinnen und Künstler nun im Ausland?
Ja, immer mehr Kulturschaffende hier haben nur ein Ziel: das Land zu verlassen. Es gibt einen Braindrain von Akademikern, Wissenschaftlern und eben auch Kulturschaffenden. Ich habe das in Gesprächen mit Leuten aus der Filmszene und mit Autoren gemerkt, dass sich alle mit der Frage beschäftigen, welches europäische Land ihnen eine Zukunft bieten könnte. Wir sehen das bei den Journalisten: In Berlin gibt es bereits eine Diaspora-Szene rund um den bekannten ehemaligen Chefredaktor der Zeitung «Cumhuriyet», Can Dündar. Aber natürlich ist das ein Verlust für die Zukunft der Türkei.
Das Gespräch führte Vanda Dürring.