SRF: Der Ukraine droht ein Bürgerkrieg. Sowohl die EU als auch Russland hätten die Ukraine gerne auf ihrer Seite. Gibt es einen Lösungsansatz?
Urs Bruderer aus Brüssel: Es gibt keine schnelle Lösung für dieses Problem. Die EU will im Moment vor allem verhindern, dass die Situation noch mehr eskaliert. Es geistert ja auch schon die Sorge herum, dass Russland in die Ukraine einmarschieren könnte, wenn die Regierung in Kiew die Proteste nicht unter Kontrolle kriegt. Mittelfristig glaube ich, dass die EU den Schlüssel zu einer Lösung auch in Moskau suchen muss, auch wenn sie derzeit Dreiergespräche mit Kiew und Moskau ablehnt. Denn Putin übt einen solch starken Druck auf die Ukraine aus, dass sich die Regierung eine Anlehnung an den Westen kaum leisten könnte, selbst wenn sie es wollte.
Sie sehen das anders?
Christof Franzen in Moskau: Das Treffen wird die Lage in der Ukraine nicht verändern, denn die Lösung für die Ukraine liegt in der Ukraine selber. Sollten die zerstrittenen Parteien einen Kompromiss finden, dann ist der Einfluss Russlands auf das Land beschränkt. Obwohl Russland natürlich alles versucht, die Ukraine an sich zu binden. Putin lockt Kiew mit billigem Gas, Milliardenkrediten oder droht mit Handelssanktionen. Was der Westen oft vergisst: Es steht für Moskau in diesem Punkt viel auf dem Spiel. Es sind nicht nur die Jahrhunderte alten Bindungen zur Ukraine, die da hineinspielen. Es geht auch um die künftige Eurasische Union, Putins angedachtes Gegenstück zur Europäischen Union. Ein solches Konstrukt steht und fällt mit der Ukraine.
Stichwort Syrien: Russland unterstützt den syrischen Diktator, die EU ist gegen ihn. Könnte hier eine Annäherung zwischen der EU und Russland stattfinden?
Franzen: Russland bewegt sich bezüglich Syrien in den grundsätzlichen Fragen nicht. Höchstens in humanitären Angelegenheiten könnte etwas gehen.
Wird Assad nun in der EU wegen des drohenden Terrorismus wieder salonfähig?
Bruderer: Salonfähig wird er deswegen nicht. Es hat sich bei den EU-Staaten aber die Einsicht durchgesetzt, dass der Bürgerkrieg ohne Assad nicht zu stoppen ist. Sein Regime ist zu stark, die Opposition zersplittert und unzuverlässig. Dieser Gipfel wird aber nicht der Ort sein, an dem sich die beiden Grossmächte in der Syrien-Frage annähern werden.
Europa beklagt die andauernden Handelsschikanen Russlands gegenüber den europäischen Importen. Die Aussichten hier, dass Russland der EU entgegenkommt?
Franzen: Es sind gegenseitig Klagen bei der Welthandelsorganisation, der WTO hängig. Beide werfen einander vor, ungerechte Einfuhrsteuern für gewisse Güter zu erheben. Da wird wohl die WTO vermitteln müssen. Auch hier spielt die Geschichte eine Rolle. Russland trat der WTO erst 2012 bei – mit dem Versprechen im eigenen Land, die Landwirtschaft und die Autoindustrie zu schützen.
Europa könnte Russland bei der Gewährung der Visafreiheit entgegenkommen. Was sind diesbezüglich die Überlegungen der EU?
Bruderer: Da wartet die EU erst mal ab. Zuerst müssen sich die Beziehungen grundsätzlich verbessern. Die Visafreiheit ist ein grosser Verhandlungstrumpf, den die EU erst ausspielt, wenn auch Russland ihr entgegenkommt.
Putin baut an seinem monumentalen Olympia-Projekt Sotschi. Trotz der Begnadigung von Michail Chodorkowski und zweier Pussy-Riot-Frauen beklagt die EU, dass Putin Menschenrechte missachtet, die soziale und ökologische Verantwortung nicht wahrnimmt. Kann Putin hier das Ruder noch herumreissen?
Franzen: Die Spiele sind in allererster Linie eine Machtdemonstration – auch gegen innen. Aussenpolitisch macht er deswegen nicht den Bückling. Chodorkowski sagte übrigens vorgestern in einem Interview, dass er seine Freilassung nicht im Zusammenhang mit Sotschi sehe. Kommt hinzu: Wenn Putin wirklich dem Westen gefallen wollte, hätte er das Homosexuellen-Gesetz nicht unterschrieben.
Eiszeit im Verhältnis zwischen Russland und der EU – die beiden Grossmächte misstrauen sich offensichtlich. Doch der kalte Krieg ist vorbei. Wo liegt eigentlich das Grundproblem zwischen den beiden?
Bruderer: In Brüssel ist man der Meinung, dass Putin mit seinen hegemonialen Bestrebungen eine antiquierte Form von Machtpolitik betreibt. Europa wäre hingegen offen für ein multipolares Arrangement, in dem natürlich auch Russland seinen Platz hat. Und das eine sehr viel engere Partnerschaft zwischen der EU und ihren östlichen Nachbarn erlauben würde, aber auch eine engere Partnerschaft mit Russland. Und gerne erinnert man hier daran, dass auch Putin einmal von einer Freihandelszone träumte, die von Lissabon bis Wladiwostock reicht. Wir sind immer noch bereit dazu, heisst es hier. Mit dieser Haltung macht es die EU sich aber möglicherweise ein bisschen einfach. Der Zerfall der Sowjetunion und die Umwandlung zu einem modernen Staat stellt Russland vor Probleme, die man hier womöglich unterschätzt. Mittelfristig könnte es hilfreich sein, wenn die EU in manchen Dingen über ihren Schatten springen und auf Russland zugehen würde. Zum Beispiel bei der Visafrage. Wenn Russen einfacher nach Europa reisen können und Europäer einfacher nach Russland, ändert sich mittelfristig vielleicht mehr zum Guten als durch eine Diplomatie der Härte.
Franzen: Es ist ein Problem zwischen Russland und dem Westen, und nicht nur zwischen Russland und der EU. Aus russischer Sicht ist Russland gegenüber dem Westen in den 1990-iger Jahren tief gefallen. Viele Russen haben im Zuge der Demokratisierung unter Jelzin ein Trauma erlitten, weil sie verarmten, aber auch, weil das Land aussenpolitisch viele Niederlagen hinnehmen musste, zum Beispiel die NATO-Osterweiterung. Dann kam Putin. Er gab vor allem in den ersten beiden Amtszeiten vielen Menschen wieder Vertrauen und Selbstbewusstsein zurück und nicht zuletzt auch einen gewissen materiellen Wohlstand dank der stets steigenden Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft. Putin sagt: Wir müssen uns vom Westen keine Vorschriften mehr machen lassen. Ausserdem setzt er inzwischen auf eine konservative Politik, die liberalen Werte des Westens werden teils als dekadent dargestellt. Die pointierte antiwestliche Haltung kommt gut an im Volk, und stärkt das Selbstvertrauen der Russen.
Das Gespräch führte Christa Gall.