SRF News: Ist dieser Streit mit Deutschland in der Türkei überhaupt ein Thema?
Thomas Seibert: Das ist ein Thema, insbesondere weil es in das Muster der Regierungsanhänger und der regierungsnahen Medien passt, wonach Deutschland eine Kampagne gegen die Türkei fährt, und wonach Deutschland angeblich versucht, den Aufstieg der Türkei zur Regionalmacht zu verhindern.
Deutschland ist nicht das erste Land, das sich zum Völkermord äussert. Wird das auch thematisiert?
Deutschland ist ein ganz wichtiges Land für die Türkei. Viele Leute erwarten hier, dass nach der Anerkennung des Völkermordes durch Deutschland andere wichtige Länder wie Grossbritannien und die USA folgen werden. Damit wäre der türkische Kampf gegen die internationale Anerkennung des Völkermordes praktisch verloren. Deutschland ist nicht wie jedes andere Land, sondern das wichtigste der EU. Es hat Signalwirkung, und deshalb ist die Wut der Türken so gross.
Plötzlich steht Deutschland als die grosse, finstere Macht da.
Der Streit ist in den letzten Tagen hochgekocht. Wie ernst ist es Erdogan?
Es gibt einige Zeitungskommentare, die heute hinterfragen, ob Erdogan wirklich einen Plan hat, ob er wirklich weiss, was er anstellen will. Manche denken, dass er nicht so richtig weiss, wie er auf diese Resolution reagieren soll. Es ist auch nicht klar, ob Erdogan in dieser Sache Treiber ist oder Getriebener. Fest steht, dass in den ersten Tagen nach dem Bundestagsentscheid letzte Woche die türkischen Regierungsreaktionen eher moderat und auf Ausgleich bedacht waren. Dann schaltete Erdogan um und startete diese überaus scharfen Angriffe, besonders auf die türkischstämmigen Abgeordneten im Bundestag. Dies hat wiederum in den Medien des Regierungslagers eine grosse Kampagne ausgelöst. Plötzlich steht Deutschland als die grosse, finstere Macht da; der grosse Strippenzieher, der alles negativ beeinflusst. Jetzt ist Erdogan in einer Ecke, aus der er möglicherweise nicht mehr ohne weiteres heraus kommt. Grosse Sanktionsmöglichkeiten hat er nicht. Deutschland ist der grösste Handelspartner der Türkei. Mit wirtschaftlichen Sanktionen würde sich die Türkei ins eigene Fleisch schneiden.
Das heisst, die guten Beziehungen zu Deutschland sind ihm trotzdem wichtig?
Die sind ihm grundsätzlich sehr wichtig. Erdogan sieht die Türkei ja als wichtige Macht, und eine wichtige Macht sollte mit anderen wichtigen Akteuren zusammenarbeiten. Aber er hat sich hier entweder von seinen Emotionen treiben lassen, oder er hat selbstständig Gas gegeben und seine Anhänger angefeuert. Das macht er ja öfters, besonders in Wahlkämpfen. Er steht jetzt im Grunde vor einer Situation, in der er die Deutschen braucht, um wieder vom Baum herunterzukommen. Er braucht eine versöhnliche Geste von Deutschland, um begründen zu können, weshalb er keine Sanktionen gegen das Land anordnet.
Erdogan braucht eine versöhnliche Geste von Deutschland.
Bereits zuvor gab es den Streit wegen eines Schmähgedichts des Satirikers Jan Böhmermann über Erdogan. Die Stimmung verschlechtert sich also weiter?
Ja. Das hat unter anderem mit einem veränderten Selbstverständnis der Türkei zu tun. Erdogan und seine Umgebung sehen die Türkei als eigenständige Regionalmacht, die sich vom Westen nichts mehr sagen lässt. Dieses Gefühl, dass der Westen immer mit der Türkei gespielt hat, und jetzt immer noch versucht, die Türkei herumzuschubsen, ist sehr weit verbreitet in der Führungsspitze der Türkei. Erdogan setzt jetzt dagegen und ruft: «Nein, wir lassen uns nichts mehr sagen.» Daher kommt auch dieses selbstbewusste bis aggressive Auftreten Deutschland und anderen europäischen Staaten gegenüber – und deshalb führt er auch die Strafprozesse in Deutschland gegen diesen Satiriker Böhmermann. Es ist eine Machtdemonstration Erdogans. Das Problem dabei ist, dass diese Vorstellung der Türkei von einer eigenen Macht, von einer eigenen Kontrolle, doch etwas mit der politischen Realität kollidiert. Niemand weiss, wie das ausgehen wird.
Das Gespräch führte Claudia Weber.