Erdogan fegt die Türkei heraus – und niemand scheint ihm Einhalt zu gebieten. Allerdings hat sich die Ausschau nach einem Widersacher bisher aufs Exil, sprich: auf Fethullah Gülen, konzentriert. Gibt es denn im Inland niemanden, der dem Präsidenten die Stirn bieten kann? Mögliche Kandidaten mit dem erforderlichen Fomat im Überblick.
Medienunternehmer Dogan? Zu alt, zu schwach, zu unbeliebt
Einer, der das Heu mitnichten auf der gleichen Bühne hat wie Erdogan, ist Aydin Dogan. In den 70er-Jahren stieg er zum Finanz-, Industrie- und Medienmagnaten auf. Doch heute sind seine Tage gezählt. Der Grund: Bereits vor acht Jahren setzte der türkische Präsident Steuerfahnder auf die Dogan-Holding an. Diese erhoben derart hohe Nachsteuern und Strafen, dass die Gruppe Beteiligungen verkaufen und eigene Zeitungen an regierungsnahe Unternehmen abtreten mussten.
Aber noch in einem anderen Punkt kann der heute 80-jährige (!) Unternehmer dem Präsidenten nicht das Wasser reichen. Burak Çopur, Politikwissenschafter und Türkei-Experte an der Universität Duisburg-Essen: «Aydin Dogan hätte meines Erachtens keine breite Unterstützung (...) in der Bevölkerung und könnte Erdogan deshalb auch nicht gefährlich werden.»
HDP-Co-Chef Demirtas? Offiziell kriminell
Auch Selahattin Demirtas, der dem Präsidenten spinnefeind ist, hat seine Glaubwürdigkeit und Macht verloren. Politikwissenschafter Çopur zum Vorsitzenden der pro-kurdischen Partei HDP: «Erdogan hat es (...) geschafft, die HDP in der Öffentlichkeit zu kriminalisieren und sie in Verbindung mit dem Terrorismus zu bringen.»
Vor einem Jahr war der HDP-Chef ins Parlament eingezogen, um eine Brücke zwischen der verbotenen PKK und den anderen Parteien zu schlagen. Ende 2015 wurde der Ruf nach Krieg von kurdischen Hardlinern aber so laut, so dass sich Demirtas zu einer Forderung nach einem autonomen Kurdistan hinreissen liess – laut türkischer Justiz ein Verfassungsbruch, mit dem er sich dann besagte strafrechtliche Ermittlung einbrockte.
Die anatolischen Tiger? Je nach Konjunktur
Wenn keine Person Erdogan Paroli bieten kann, dann vielleicht eine Gesellschaftsschicht? Laut Yasar Aydin, Türkei- und Migrationsforscher an der HafenCity Universität Hamburg, erstarkt seit den 50er- und 60er-Jahren in den anatolischen Städten Konya, Denizli und Kayseri eine religiös-konservative Schicht aus Klein- und Mittelunternehmern. Die Industriellen, die etwa Automobilteile, Textilprodukte und Speiseöl in alle Welt exportieren, unterstützten die AKP und den Präsidenten bisher mit Stimmen und Steuergeldern. Bisher. Aydin: «Sollte sich Erdogans Wirtschaftspolitik als kontraproduktiv erweisen, könnte sich diese gesellschaftliche Schicht (...) gegen den Präsidenten stellen.»
Dass die Ratingagenturen die Türkei herabgestuft haben (...), könnte die Sachlage verändern.»
Man erinnere sich: Erdogan hat dem Land bei Amtsantritt wirtschaftliches Wachstum versprochen und dieses Versprechen auch halten können. Seit 1999 hat sich das Bruttosozialprodukt der Türkei verdreifacht, und die Verschuldungsrate ist auf 40 Prozent geschrumpft. Aydins Erklärung: «Einerseits hat Erdogan Glück gehabt mit der Konjunktur, andererseits hat er – nach etlichen Regierungen mit kurzer Lebensdauer – aber für politische Stabilität und damit für Investitionssicherheit gesorgt.» Dies habe seine Position gestärkt und ihn wenig erpressbar gemacht.
Seit 2013 verzeichnet die Türkei aber wieder sinkende Wachstumsraten. Ob das die türkischen Unternehmer aus der Reserve lockt? Aydin wägt ab: «Dass die Ratingagenturen die Türkei herabgestuft haben (...), könnte die Sachlage verändern.» Andererseits sei Erdogan nach wie vor in der Lage, Grossaufträge zu verteilen. Indem Erdogan namentlich U-Bahnen und Staudämme bauen lässt, versuche er die sinkenden Wachstumsraten zu kompensieren.