Die Situation an der türkisch-syrischen Grenze ist brenzlig. Jeden Tag fliehen Tausende vor Gewalt und Tod in die Türkei, gleichzeitig rückt die Terrormiliz IS vor. In dieser Situation spielt Präsident Recep Tayyip Erdogan mit gefährlichen Ideen. Einen Einsatz von Bodentruppen in Syrien schliesse er nicht aus, sagte er in Istanbul.
SRF: Kämen türkische Bodentruppen nicht einer Kriegserklärung an Syrien gleich?
Iren Meier: Doch, der syrische Präsident Baschar al-Assad würde das als eine Kriegserklärung verstehen. Es ist tatsächlich ein Gedankenspiel mit hochexplosivem Potenzial. Eigentlich ist es ein logisches Gedankenspiel, wenn man sieht, dass die USA und ihre Alliierten den Vormarsch der IS-Terrormiliz bisher nicht wirklich stoppen konnten. Aber es ist eben auch ein gefährliches und unheimliches Gedankenspiel. Deshalb reagieren die USA und die Nato auch so reserviert und zurückhaltend.
Was sollen die Bodentruppen in Syrien denn bewirken?
Erdogan möchte eine Pufferzone, eine sogenannte Schutzzone im Norden Syriens einrichten. Er glaubt, damit mehrere Ziele erreichen zu können. Zum ersten, die IS-Terrormiliz zurückzudrängen, und zum zweiten, die kurdischen Gebiete in Syrien zu kontrollieren. Konkret würde das so aussehen: In dieser Schutzzone möchte die Türkei die vielen Flüchtlinge aus Syrien ansiedeln und sie auch schützen. Das hiesse auf der anderen Seite aber, dass die syrischen Kurden weite Teile ihres Siedlungsgebietes verlieren und sie praktisch unter türkischer Besatzungsmacht leben würden. Und dagegen wehren sich die Kurden in Syrien und in der Türkei.
Der syrische Präsident Assad würde das als eine Kriegserklärung verstehen.
Die Idee hat Erdogan schon mehrfach geäussert, nur jetzt überlegt er sich, das Ziel mit Bodentruppen durchzusetzen. Könnte die Türkei das überhaupt allein?
Wenn wir die Geografie betrachten, dann müssen wir das bezweifeln. Wir sprechen hier von einer 900 Kilometer langen Grenze zwischen Syrien und der Türkei. Diese Grenze wird zum grossen Teil von der IS-Terrormiliz kontrolliert, zu einem anderen Teil von den syrischen Kurden. Und nur ganz im Westen stehen vereinzelt ein paar sogenannte moderate syrische Rebellen.
Erdogan deutet an, dass diese Schutzzone bis zu 50 Kilometer breit sein könnte. Sie könnte also tief in syrisches Gebiet hinein reichen. Das wäre eine riesige Aktion. Der Bodenkrieg wäre vorprogrammiert.
Heisst das, die UNO oder gar die Nato müssten mithelfen?
Das hiesse es am Ende wahrscheinlich. Die Türkei ist Nato-Mitglied. Je nach dem, wie Präsident Assad reagiert, müsste die Nato eingreifen. In dieser verfahrenen und gefährlichen Situation ist eigentlich die ganze internationale Gemeinschaft gefordert, aber niemand scheint einen Ausweg zu wissen, und niemand will sich in einen Bodenkrieg verwickeln lassen.
Die Kurden sind in einer äusserst unangenehmen Situation, eingeklemmt zwischen den Interessen der Türkei und Syriens. Wie reagieren sie auf die Ankündigung?
Die Kurden reagieren sehr nervös und misstrauisch, vor allem gegenüber der türkischen Regierung. In diesem unübersichtlichen Konflikt mit vielen Fronten steht jetzt der Friedensprozess zwischen der kurdischen PKK und dem türkischen Staat wirklich auf der Kippe. Denn die kurdische Arbeiterpartei wirft der Regierung Erdogans vor, sie mache gemeinsame Sache mit dem IS gegen die Kurden. Dieser türkisch-kurdische Friedensprozess ist eine sehr wichtige und positive Entwicklung der letzten Jahre. Wenn der jetzt zusammenbrechen sollte, wäre das ein grosser Rückschlag.
Der Friedensprozess zwischen der PKK und dem türkischen Staat steht wirklich auf der Kippe.
Wie wahrscheinlich ist es, dass IS und Erdogan wirklich zusammen arbeiten?
Es gibt keine Beweise dafür, dass es immer noch eine Verbindung gibt. Dafür, dass Erdogan den IS sehr lange gewähren liess und unterstützt hat, gibt es allerdings viele Indizien.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovitsch.