SRF News: Seit der Schliessung der Balkanroute stecken Zehntausende Flüchtlinge fest, die nach Westeuropa wollen. Norbert Mappes-Niediek, wie geht es denen?
Norbert Mappes-Niediek: Überwiegend schlecht. Allein in Griechenland hängen derzeit 61'000 registrierte Flüchtlinge fest, 10'000 sind es in Serbien. Dort mussten viele von ihnen bei Eiseskälte auf einem ausrangierten Bahnhof überwintern. Gemeinsam ist allen Flüchtlingen auf dem Balkan, dass sie weiter nach Westeuropa wollen.
Vor einem Jahr sagten Sie, dass die Schliessung der Balkanroute den Schleppern in die Hände spielen könnte. Haben sich diese Befürchtungen bewahrheitet?
Ja, das sagen auch alle Experten der europäischen Polizeibehörde Europol. Allerdings hat das Schleppertum nicht in dem Ausmass zugenommen, wie ich befürchtet hatte. Das liegt wohl vor allem daran, dass die Flüchtlinge kaum über Geld verfügen. Die Schlepper verlangen bis zu 6000 Euro, um jemanden von Griechenland nach Deutschland zu schleusen.
Je schwieriger der Weg nach Westeuropa wird, desto mehr kosten die Schlepperdienste.
Ist es für Flüchtlinge überhaupt noch möglich, auf legalem Weg nach Westeuropa zu gelangen?
Kaum. Zwar gibt es sogenannte Resettlement-Programme, im Rahmen derer jemand aus einem Krisengebiet direkt in ein Asylland umziehen kann. Doch die bürokratischen Hürden dafür sind sehr hoch. Ausserdem konnten bislang nur wenige hundert Personen davon profitieren. Auch nehmen nicht alle EU-Länder an dem Programm teil. Hinzu kommt, dass jene Staaten, die bereits viele Flüchtlinge aufgenommen haben, finden, sie hätten ihr Soll bereits erfüllt. Dazu gehört auch Deutschland.
Trotzdem wollen die Migranten und Flüchtlinge, die nun irgendwo feststecken, nach Westeuropa, vor allem nach Deutschland. Weshalb?
Viele von ihnen haben Angehörige, die es bereits nach Deutschland geschafft haben. Oftmals wurden vor anderthalb Jahren die jungen Männer vorgeschickt, die ihnen nachfolgenden Frauen und Kindern sitzen nun irgendwo auf dem Balkan fest. Die Zusammenführung wird ihnen nun nicht gewährt, auch nicht in Deutschland. Es gibt für sie kein Vorwärts und kein Zurück.
Ist es für diese Menschen keine Option, in einem der Balkanstaaten ein Asylgesuch zu stellen?
Für Flüchtlinge, die bereits in der Türkei waren, sind Serbien oder auch das EU-Land Bulgarien ein enormer Rückschritt. Die Bedingungen für Asylbewerber in diesen Staaten sind noch schlechter als in der Türkei. Ausserdem herrscht auf dem Balkan eine grosse Feindseligkeit gegenüber den Fremden. Andere Länder versuchen – und schaffen es – Flüchtlinge davon abzuhalten, bei ihnen ein Asylgesuch zu stellen, wie das etwa Kroatien macht. Hier haben die Behörden eine Art Versteckspiel erfunden, das es praktisch verunmöglicht, in Kroatien Asyl zu beantragen.
Die Schliessung der Balkanroute hängt eng mit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei zusammen. Letztere hat zugesagt, Flüchtlinge aus Griechenland zurückzunehmen, wenn im Gegenzug gleich viele Flüchtlinge direkt aus der Türkei nach Europa gebracht werden. Wie wirken sich die angespannten Beziehungen zwischen Berlin und Ankara darauf aus?
Das weiss man nicht so genau. Von türkischer Seite ist wiederholt damit gedroht worden, das Abkommen ausser Kraft zu setzen. Ankara droht also damit, den Hahn quasi wieder aufzudrehen und die Flüchtlinge wieder ungehindert nach Griechenland zu lassen. Tatsächlich sieht es danach aus, als hätte die Türkei die Macht dazu, den Flüchtlingsstrom zu steuern. Denn derzeit kommen nur sehr wenige Flüchtlinge und Migranten übers Meer nach Griechenland. Falls es zu einem Ende des Abkommens kommen sollte, wären die griechischen Inseln sehr rasch wieder völlig von Flüchtlingen überfüllt. Diese müssten aufs griechische Festland gebracht werden und würden sich einen Weg nach Westeuropa suchen. Wir hätten sehr rasch wieder die Verhältnisse, welche vor der Schliessung der Balkanroute geherrscht hatten.
In der Schweiz ist die Zahl der Asylgesuche letztes Jahr gegenüber 2015 um fast ein Drittel zurückgegangen. Aus Sicht des Westens ist die Strategie mit der Schliessung der Balkanroute aufgegangen?
Ja, allerdings. In Deutschland ist die Zahl der Asylanträge sogar auf ein Zehntel im Vergleich zu 2015 gesunken, ebenso in Österreich. Die Schliessung der Balkanroute war aus ihrer Sicht deshalb ein voller Erfolg. Doch das Problem ist damit nicht gelöst. Damals befanden sich rund zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei, heute sind es bereits 2,7 Millionen. 700'000 Syrer leben in Jordanien, bis zu 2 Millionen in Libanon. Ausserdem stellen die reichen Länder weiterhin nur einen Bruchteil des Geldes zur Verfügung, das nötig wäre, damit das UNO-Flüchtlingshilfswerk oder das Welternährungsprogramm die Menschen anständig versorgen könnte. In einem entsprechend elenden Zustand sind die Flüchtlingslager in diesen Ländern. Insgesamt sind 4,8 Millionen Syrer ins Ausland geflüchtet. Sie alle können nicht in ihr Land zurückkehren – man kennt ja die Bilder der zerstörten Städte aus dem Fernsehen. Fakt ist: Irgendwann wird sich das Flüchtlingsproblem wieder ein Ventil suchen.
Das Gespräch führte Susanne Schmugge.