Drei Nächte lang verstecken sich Olga und ihr Freund Ruslan in einer Parkgarage vor den russischen Bomben auf die ostukrainische Grossstadt Charkiw. Dann steht für sie fest: Sie müssen flüchten.
Mit dem Zug flüchten sie zuerst in die westukrainische Grossstadt Lwiw. Dort trennen sich ihre Wege. Ruslan, als junger Mann, muss in der Ukraine bleiben. Olga reist weiter nach Warschau, wo sie bei einem Cousin unterkommt.
Seit ihrer Ankunft in Warschau erzählen Olga und ihre Familie von den vielen widersprüchlichen Gefühlen, die sie seit dem russischen Angriff Ende Februar durchleben mussten.
Mit den russischen Bomben kam die Angst
Am Abend vor dem russischen Angriff ist Olga mit ihrem Freund Ruslan in der ostukrainischen Grossstadt Charkiw im Kino. Es ist der letzte Abend ihres alten Lebens. Aber das wissen sie nicht. Nur wenige Tage später sitzen die beiden in einem überfüllten Zug Richtung Westen. Gezeichnet von Angst kommt Olga Anfang März in der polnischen Hauptstadt Warschau an. An diesem Tag begegnen wir Olga zum ersten Mal. Und schon da ist klar, dass ihr Leben in ein «vor dem Krieg» und ein «nach dem Krieg» zerfallen wird.
Nach der Flucht traue ich mir sogar zu, Mutter zu werden.
Schuldgefühle nach der Flucht
Auch nach zwei Wochen in der polnischen Hauptstadt zuckt Olga immer noch bei jedem lauten Geräusch zusammen. Die Angst aus den Bombennächten in Charkiw schwindet nur langsam. Und was sich in Olga breit macht, ist auch schwer auszuhalten: Die Sorge um ihre Familie und ihren Freund Ruslan, der als junger Mann die Ukraine nicht verlassen darf, und die Schuldgefühle, dass sie in Sicherheit ist, während anderen in der Ukraine der Tod droht.
Der Freund bleibt zurück
Die Massenflucht von Frauen, Kindern und Alten belastet auch die Männer, die in der Ukraine bleiben müssen. Olgas Freund, der 29-jährige Informatiker Ruslan Sapon, erzählt von seiner Einsamkeit, davon, wie schrecklich es ist, wenn der Bombenalarm zum normalen Teil des Lebens wird. Und er erzählt von seinem Hass, der ihn selbst erschreckt.
Der Versuch, eine zweite Heimat aufzubauen
Nach zwei Monaten hat Olga wieder ihre «eigene kleine Welt». Ruslan, ihr Freund, durfte die Ukraine verlassen, weil er als Diabetiker nicht wehrtauglich ist. Und Olgas Mutter Tatjana wurde von ihrem Ehemann praktisch zur Flucht gezwungen. Mit viel Mühe hat Olga für sie alle in Warschau eine kleine Wohnung gefunden. Dort sind die drei vereint in ihrer Angst um Familie, Freunde und das Heimatland. Und doch erleben sie die Flucht ganz unterschiedlich.
Wenn du dir ein neues Zuhause schaffst, distanzierst du dich von der Heimat.
«Nicht mehr Russisch zu sprechen, ist patriotischer»
Nach vier Monaten hat sich Olga in Warschau eingerichtet: Sie hat eine Wohnung gefunden, hat Aufträge an Land gezogen, lernt Polnisch. Ihr Leben sei von aussen betrachtet gut. Innerlich sieht es anders aus: Sie leidet unter der Hilflosigkeit angesichts des Krieges in der Ukraine. Um sich vom russischen Angreifer zu distanzieren, hat sie einen Teil ihrer Muttersprache abgelegt. Sie versucht jetzt, reines Ukrainisch zu sprechen, statt wie bisher eine Mischung aus Ukrainisch und Russisch.
«Ich will leben, statt warten»
Nach bald einem Jahr auf der Flucht hat Olga einen grossen Vorsatz: «Leben statt warten.» Mit ihren Gedanken ist sie zwar meist in der Ukraine – bei ihrer Familie nahe der russischen Grenze, bei den Freunden im kriegsversehrten Charkiw. Und doch will sie sich jetzt mehr auf ihren jetzigen Wohnort Warschau einlassen. Sie will Polnisch lernen, neue Freundschaften schliessen. Doch Heimweh und Trauer bremsen sie.
Zurückkehren, um sich als Mensch zu fühlen
Nach bald zwei Jahren als Flüchtling in Warschau besucht Olga zum ersten Mal wieder ihre Heimat. Nach den zehn Tagen in der Ukraine ist sie hin- und hergerissen zwischen ihrer Angst vor den russischen Angriffen und dem Gefühl, in Polen nicht willkommen zu sein. Sie sagt: «Vielleicht ist es besser, zurück in die Ukraine zu gehen und mich wieder als Mensch zu fühlen.»