«Ich habe gedacht, der Krieg ist ausgebrochen. Aufgerissene Strassen und Leitungen und Menschen, die nicht wussten, was sie tun sollen, die Durst hatten ...» Bürgermeisterin Sabine Preiser-Marians Stimme stockt, die Emotionen kommen wieder hoch, jetzt vor dem Jahrestag.
Diese Bilder habe ich tief vergraben in meiner Erinnerung – auch, um mich selbst zu schützen.
Bis zum ersten Stock stand das Wasser in der Stadt Bad Münstereifel (Nordrhein-Westfalen), viele Mauern waren weg. Die Erft kam als Sturzflut mitten durch die Altstadt und schwemmte Container, Autos und Heuballen an. Es gab weder Trinkwasser noch Strom.
Auch ein Jahr danach ist die Stadt noch immer eine riesige Baustelle. Die meisten Läden sind geschlossen, wollen aber wiedereröffnen. Schaufenster sind verbarrikadiert, Bautrockner noch immer im Einsatz. Ein riesiges Problem: Überall fehlen Handwerker. Material wie Fenster und Türen lassen monatelang auf sich warten.
Wiederaufbau stockt, Soforthilfe fliesst nur spärlich
Der Atelierladen von Künstlerin Gaby Kutz wurde zum Aquarium. Ihr Lebenswerk, Aquarelle und Bilder in Öl, steckte vollständig im Schlamm. Ihre Unterlagen aber waren alle unversehrt zu Hause. Sie profitierte von der Wiederaufbauhilfe. 30 Milliarden Euro haben Bundesländer und Bund dafür bereitgestellt. Doch ein grosser Teil des Geldes kommt nicht bei den Menschen an. Viel zu kompliziert ist der Online-Antrag.
Der Antrag auf Wiederaufbauhilfe war ein bürokratisches Monster – 400 Stunden habe ich gebraucht.
Viele wissen gar nicht, wie das geht. Es werden viele Belege und mehrere Gutachten verlangt. Dabei fehlt vielerorts auch in der Verwaltung Personal. Kommt dazu, dass die meisten der Betroffenen mental noch nicht in der Lage sind, solche Anträge zu stellen – sie sind zu erschöpft.
Im Ahrtal in Rheinland-Pfalz gab es die meisten Toten. 9000 Gebäude wurden zerstört. Am Oberlauf des Flusses rissen die Fluten der Ahr schon Häuser weg. Trotzdem gab es für den Unterlauf keine Warnungen. Ein Alarmierungssystem und eine Warnkette gab es vielerorts nicht. Die rechtzeitigen Warnungen von Meteorologen im Vorfeld wurden nicht entsprechend erhört oder falsch interpretiert.
Hätten wir um 20 Uhr eine Warnung bekommen, hätten wir vier Tote weniger.
Im kleinen Ort Marienthal starben von 102 Einwohnern vier Menschen. Rolf Schmitt harrte mit Frau und Hund Molly auf dem Speicher aus. Das Wasser stand sechs Meter hoch. Die Nachbarn konnten sich nur noch aufs Dach retten, wo sie stundenlang auf Hilfe warten mussten.
Der Polizist hat sich sofort um die Dorfgemeinschaft gekümmert und die Zukunft organisiert. Einige leben noch immer in Containern, die Häuser stehen praktisch im Rohbau da. Weil fast alle der 37 Gebäude neue Heizungen brauchen, entschied man sich für eine Heizung für alle – CO₂-neutral. «Dorfwärme ist ein Solidaritätsprojekt», sagt Schmitt. Das gehe nur, weil das Dorf so klein und das gegenseitige Vertrauen so gross sei. «Wir können sagen, oh wie schlimm, oder wir sehen es als Chance und das haben wir gemacht.»
Enorme Solidarität
Weiter oben an der Ahr liegt Schuld in einer engen Flussschlaufe. Das Dorf stand komplett unter Wasser. Noch immer ist da vor allem viel Schutt, Strassen sind nicht geflickt, alles ist grau.
Ali hat seine kurz zuvor erstandene Pizzeria mit einer Wohnung darüber verloren. Das Haus wurde zur Hälfte weggeschwemmt. Fast alle dürfen ihre Häuser wieder am gleichen Ort aufbauen. Hier aber geht das nicht, zu gefährlich.
Seine siebenjährige Tochter hat, wie viele andere auch, nun jedes Mal Angst, wenn es regnet. Dennoch möchte die Familie hier blieben, sie sind alle vier gut vernetzt.
Ich habe jetzt eine grosse Familie: ganz Deutschland.
Ali erfährt viel Solidarität. Menschen aus Potsdam haben ihm einen Imbisswagen gespendet. «Bis heute rufen sie mich an, ob ich etwas brauche.» Er hat die Leute inzwischen auch schon selbst besucht.
Nun konnte Ali oben am Hang ein Restaurant übernehmen. Jetzt braucht er bloss noch Handwerker für die Sanierung, dann könnte er endlich wieder selbst Geld verdienen.
Gefahr der «Hochwasser-Demenz»
Katharina Kläsgen hat in ihrem Heimatdorf Schuld einen Infopoint aufgebaut. Sie ist die vielleicht am besten vernetzte Person im Dorf. Sie beklagt, dass die Kommunikation zwischen Gemeinden, Behörden und Betroffenen katastrophal sei. Es werde viel zu wenig erklärt, weshalb es nicht rascher vorwärtsgehe. Man müsse doch Transparenz herstellen.
Wir müssen wissen, dass die Ahr zu Hochwasser fähig ist und wie wir uns künftig dagegen schützen können.
Die Studentin stellt erschreckt fest: «Wenn man die Zerstörung täglich sieht, weiss man kaum mehr, wie es vorher ausgesehen hat.» Sie schaut dennoch zuversichtlich in die Zukunft. «Vor der Flut war es wunderschön hier und es wird auch wieder wunderschön werden. Aber der Prozess wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern.»
Am meisten aber fürchtet sie sich vor der «Hochwasser-Demenz». Es gab hier auch schon früher Hochwasser, und dennoch hat man nicht die richtigen Lehren daraus gezogen. Man müsse sich stets bewusst sein, dass diese Hochwasser wahrscheinlicher werden durch den Klimawandel – und dann wissen, wie man damit umgeht.