SRF: Wie erleben Sie die Stimmung im Land am Tag nach der Wahl?
Ekrem Güzeldere: Die Stimmung war schon in den letzten Wochen relativ ruhig für einen Wahlkampf. Man merkt schon, dass viele Leute in den Ferien sind. Auch am Tag nach der Wahl ist die Stimmung deutlich weniger aufgeregt als das noch im März oder April der Fall war. Zur ruhigen Stimmung hat aber auch das Wahlergebnis selber beigetragen. Sowohl Erdogan als auch die Opposition lagen deutlich unter den Erwartungen.
Die 52 Prozent für Erdogan sind also eher ein enttäuschendes Wahlergebnis, obwohl er im ersten Durchgang gewählt wurde?
Ja. Umfragen der letzten Tage hatten 57 bis 59 Prozent vorhergesagt. Erdogan und die AKP haben sicher damit gerechnet, mehr als 55 Prozent der Stimmen zu bekommen. Da sind knappe 52 Prozent schon eher ein Dämpfer.
Was bedeutet das nun?
Zum einen wird es keine Neuwahlen geben. Es war damit gerechnet worden, dass es bereits im November Neuwahlen und somit einen neuen Ministerpräsidenten geben werde, falls Erdogan mehr als 55 Prozent erreicht. Man hoffte auf eine Dreifünftel-Mehrheit im Parlament, die es erlaubt hätte, die Verfassung zu ändern. Doch nun wird es wohl einfach normale Parlamentswahlen im Sommer 2015 geben. Auch das Projekt, die Verfassung zu ändern und ein Präsidialsystem zu schaffen, ist deutlich schwieriger geworden. Denn aus dem jetzigen Wahlergebnis und aus dem der Kommunalwahlen im März wird die nötige Mehrheit wohl eher nicht zustande kommen.
Aber wie läuft das nun konkret: Erdogan ist ja nun zum Präsidenten gewählt und gleichzeitig noch Ministerpräsident. Gibt er dieses Amt ab?
Abdullah Gül ist noch Präsident bis am 28. August. Danach heisst der neue Präsident Erdogan und da muss es auch einen neuen Ministerpräsidenten geben, den wir noch nicht kennen. Wahrscheinlich wird dies der aktuelle Aussenminister Ahmed Davutoglu sein. Er dürfte das Amt bis zu den nächsten Parlamentswahlen ausüben und neuer Spitzenkandidat der AKP werden.
Die Wahlbeteiligung lag trotz Wahlpflicht bei nur etwa 77 Prozent. Das ist eher tief. Bei den Kommunalwahlen im März waren es noch 90 Prozent. Welche Stimmbeteiligung erwarten Sie bei den nächsten Parlamentswahlen? Eine noch tiefere?
Nein, die wird sicher wieder um die 90 Prozent betragen. Bis jetzt hatte es noch nie eine Wahl gegeben, die in der Ferienzeit stattfand. Wenn die nächsten Wahlen normal im Juni stattfinden – aber auch wenn es zu vorgezogenen Wahlen im November oder Frühling 2015 kommen sollte –, dann wird die Wahlbeteiligung wieder bei 90 Prozent liegen. Die AKP wird dann nur noch 42 bis 44 Prozent der Wählerstimmen erhalten, oder sogar weniger. Damit ist eine grosse Mehrheit der AKP im Parlament ausgeschlossen.
Das heisst, für Erdogan wird es ziemlich schwierig, die Weichen für ein Präsidialsystem zu stellen, das ihm noch mehr Macht geben würde...
Ja. Es läuft darauf hinaus, dass Erdogan für die nächsten fünf Jahre Präsident ist und zwar im gleichen parlamentarischen System wie das seine Vorgänger waren. Er wird also ein hauptsächlich repräsentativer Präsident sein mit einigen Möglichkeiten, was die Ernennung von Bürokraten und Diplomaten angeht. Er wird aber nicht die Tagespolitik bestimmen können. Trotzdem dürfte er dies versuchen, was zu Konflikten mit den amtierenden Minsterpräsidenten führen dürfte. Alles in allem wird Erdogans Position als Präsident schwächer sein, als er dies erwartet hat.
Erdogan sprach nach der Wahl am Sonntag von einem Neuanfang für die Türkei, man wolle den Streit der Vergangenheit beilegen. Wie schätzen Sie das ein?
Ich glaube das ist nicht mehr möglich. Man ist an einem Punkt angelangt, von dem aus man nicht mehr zurückgehen kann. Die politische Stimmung in der Türkei ist vergiftet, das Land ist seit drei, vier Jahren stark polarisiert. Eine solche Rede und ein Zugehen auf die Opposition wäre 2007 noch möglich gewesen. Nach einem seitens Erodogans derart schmutzig geführten Wahlkampf mit Verleumdungen und Angriffen ist dies kaum mehr möglich. Das Land wird weiterhin politisch polarisiert sein – bis es eines Tages einen anderen Präsidenten und eine andere Regierungspartei gibt.
Das Interview führte Barbara Peter.