In der DDR vertrat Gregor Gysi als Anwalt Oppositionelle. Heute bekämpft er Armut und soziale Ungerechtigkeit. Das klingt nobel. Politisch durchschlagskräftiger sind derzeit andere Themen: Mit der Angst vor Überfremdung und dem Verlust der nationalen Identität locken Rechtspopulisten europaweit Wähler an die Urnen.
Gysi ist mittlerweile 70 Jahre alt und entschiedener Europäer. Die Europäische Linke führt er als Präsident in die Europawahlen vom Mai. Illusionen macht er sich keine: «Die Rechtspopulisten werden erfolgreich sein. So schnell kriegen wir das nicht korrigiert.»
Allerdings: Eine Mehrheit von Abgeordneten im EU-Parlament, die eben dieses auflösen wollen, werde es nicht geben. «Das Problem ist aber, dass die Mehrheit, die dafür ist, sich nicht einig ist.»
Schelte für rechts, Blumen für links?
«Wir sind nicht gut aufgestellt», gibt sich Gysi auch selbstkritisch. Der politischen Linken gelinge es nicht, den Orbans und Salvinis Paroli zu bieten. Und auch nicht den starken Männern ausserhalb: Putin, Trump und Erdogan und Co.
Ein Grund für ihr Erstarken: «Demokratie dauert den Menschen zu lange. Der Vorteil des starken Manns besteht darin, dass er etwas ankündigt und sechs Monate später ist es Realität. In zwei Jahren setzt er etwas um, was die Leute nicht wollen. Und sie haben keine Chance, ihn wieder abzuwählen.»
Wir Alten können den Jungen doch nicht sagen, dass wir zum Europa mit Grenzbaum, Pass und Visumspflicht zurückwollen. Die denken doch, wir haben eine Meise!
Demokratie sei dagegen eine zähe Angelegenheit: «Zwei Jahre diskutieren und am Ende wird halbherzig etwas beschlossen.» Eine Patentlösung für die Politikverdrossenheit hat Gysi nicht. Jedes Land müsse eigene Antworten finden.
Gysi spricht aber auch vom anderen Europa: dem der Jugend. Sie studiere, lebe und arbeite ohne die Grenzen von damals. «Wir Alten können ihnen doch nicht sagen, dass wir zum Europa mit Grenzbaum, Pass und Visumspflicht zurückwollen. Die denken doch, wir haben eine Meise!»
Viele Konzerne können heute nicht mehr von den Nationalstaaten reguliert werden. Entweder Europa macht es, oder es passiert nichts.
Doch was ist das Modell der Linken, ihre Vision für die Zukunft Europas? Gisy räumt ein, dass es mit «gegen die Rechte sein» nicht getan ist. Aber: «Mit linken Themen kann man die Jugend gewinnen.» Ökologische Nachhaltigkeit sei eine brennende Frage unserer Zeit.
Angesichts der Grünen Welle, wie sie auch die Schweiz erlebt, und der Klima-Demos in ganz Europa mag diese Antwort nicht überraschen. Doch auch die soziale Frage gelte es zu beantworten – in modernisierter Form: «Früher war die soziale Frage eine nationale Frage.»
Im Zeitalter der Globalisierung habe nun aber ein weltweiter Wohlstandsvergleich eingesetzt: «Aus der sozialen Frage ist eine Menschheitsfrage geworden.» Rückkehr zum alten Nationalstaat, Abschottung, Mauerbau – all das könne nicht die Antwort sein, klagt Gysi: «Ich komme aus Berlin, ich bin mauergeschädigt genug!»
Linke Ursachenforschung
Die Linke müsse über Ursachen von Migration und Flucht aufklären, über Kriege, die auch von der westlichen Rüstungsindustrie geschürt würden. Und sie müsse eine Entwicklungspolitik propagieren, die sich nicht damit begnüge, indirekt den eigenen Unternehmen in ärmeren Weltregionen zuzudienen.
Und der Macht der Unternehmen gelte es Grenzen zu setzen: «Viele Konzerne können heute nicht mehr von den Nationalstaaten reguliert werden. Entweder Europa macht es, oder es passiert nichts.» Der Vordenker der «Linken» schliesst mit einer Warnung: Gehe die EU «kaputt», werde es unweigerlich wieder Kriege zwischen den Nationalstaaten geben.