Die Anschläge im Zentrum der türkischen Hauptstadt Ankara sollen noch viel mehr Menschen in den Tod gerissen haben als zunächst angenommen. Dies meldet zumindest die prokurdische Partei HDP, deren Anhänger sich zum Zeitpunkt der Anschläge zu einem Friedensmarsch versammelt hatten.
Demnach starben mindestens 122 Menschen. Angesichts von über 500 Verletzten könne die Opferzahl zudem noch weiter steigen, sagte ein HDP-Funktionär am Sonntag. Die Regierung hatte am Samstagabend zunächst 95 Todesopfer und 246 Verletzte bestätigt.
IS als Täter plausibel
Die Hintergründe des schwersten Anschlags in der Geschichte der Türkei bleiben derweil weiter im Dunkeln. Informationen über eine Verwicklung des IS, die die Nachrichtenagentur Reuters unter Bezug auf einen nicht namentlich genannten Justiz-Insider meldet, wurden bisher nicht bestätigt. Bisher bekannte sich niemand zur Tat.
Laut Ruth Bossart, SRF-Korrespondentin in Istanbul, sind Angaben von regierungsnahen Zeitungen, dass Spuren zum IS führen und einen Mann und eine Frau mittleren Alters betreffen, bisher noch unbestätigt. Sie seien im Grunde aber plausibel.
Man müsse dabei bedenken, dass der IS der Türkei mehrfach mit Vergeltung gedroht habe. Dies, nachdem sich Ankara nach längerem Zögern im Sommer entschlossen habe, sich am Luftkrieg gegen die Terrormiliz zu beteiligen.
Gewerkschaften kündigen Streik an
Auf dem Sihhiye-Platz im Zentrum von Ankara versammelten sich am Morgen rund tausend Menschen um der Toten zu gedenken. Eine Delegation aus Abgeordneten und Gewerkschaften sei von der Polizei auseinandergetrieben worden, als sie vor dem Anschlagsort Nelken ablegen wollten, beklagt die HDP.
Demonstranten beschuldigen Erdogan
Dass die Demonstranten auch den Staatschef Recep Tayyip Erdogan beschuldigen, erklärt sich SRF-Korrespondentin Bossart wie folgt:
Die Menschen seien der Meinung, dass in einem Land mit einem so grossen Sicherheitsapparat dieser doch eigentlich alles wissen müsste. Und so folgerten die Menschen, dass dieser Sicherheitsapparat versagt oder gar die Finger im Spiel habe.
Für die nächsten zwei Tage kündigten mehrere regierungskritische Gewerkschaften einen zweitägigen Streik an. «Um unserer verstorbenen Freunde zu gedenken und um gegen das faschistische Massaker zu protestieren, sind wir ab morgen im Streik», heisst es in einem Schreiben. Alle politischen Parteien, Arbeiter und Berufsverbände sollten sich dem Streik anschliessen. Die Regierung verhängte derweil eine dreitägige Staatstrauer.
Türkei verschiebt Flüchtlings-Gespräche
Angesichts der Ereignisse hat Ankara bei der EU um eine Verschiebung der anstehenden Gespräche über die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise ersucht. Man hoffe nun auf einen Gesprächstermin am kommenden Mittwoch, teilte die EU-Kommission mit.
Dieser kommt die Verschiebung der Gespräche ungelegen. Sie will die Türkei dazu bewegen, in der Flüchtlingskrise enger mit ihr zusammenzuarbeiten und erhofft sich davon eine Begrenzung des Flüchtlingszustroms. Eigentlich sollten am Donnerstag beim EU-Gipfel in Brüssel Ergebnisse der seit Wochen laufenden Verhandlungen präsentiert werden.